Funny und Lily waren gerade auf einem kurzen Abstecher in der Zentrale der Wächter. Eigentlich wollten sie sich nur ordnungsgemäß ins Wochenende abmelden. Doch Bartley, der Zwerg vom Dienst, erspähte sie und winkte sie hektisch heran.
„Wir haben einen Notruf aus der Zwergenstadt in den östlichen Bergen. Petra-Dura“, grummelte er. „Das liegt fast auf eurem Heimweg. Schaut mal kurz vorbei und klärt das.“
Lily, die aus Prinzip mit Bartley aneinandergeriet, verdrehte die Augen.
„Ach? Habt ihr Zwerge mal wieder zu tief und zu gierig gegraben? Einen Balrog im Keller gefunden?“
Funny packte Lily an der Schulter und schob sie schnell in Richtung Ausgang, bevor Bartley rot anlaufen konnte.
„Du bist unmöglich“, zischte sie. „Lass doch einfach mal den…“
„…dummen Zwerg in Ruhe?“ beendete Lily den Satz fröhlich. „Mann, der geht mir so auf den Senkel. Dabei wollten wir nur ins Wochenende!“
Darin, der draußen wartete, war schnell informiert. Er schob seine Brille hoch.
„Ich freue mich eigentlich. Zwergenstädte sind faszinierend. Vielleicht darf ich mal in ihre Rumpelkammer. Was die immer wegwerfen, ist technisches Gold.“
Lily nickte eifrig.
„Das ist wahr. Die du…“
„LILY!“ warnte Funny.
„…rchaus interessanten Höhlen sind immer für eine Überraschung gut“, rettete sich Lily grinsend. „Vielleicht hat sich ja wieder ein Drache auf ihren Schätzen breitgemacht.“
„Dann hätten sie nicht uns beauftragt, sondern die Drachenreiter“, warf Darin trocken ein.
„Du Spielverderber!“, schmollte Lily.
Ankunft in Petra-Dura
Der Flug nach Petra-Dura (Harter Fels) dauerte nicht lang. Die Stadt war weniger eine Mine als vielmehr das kulturelle Zentrum des Zwergenvolkes. Gigantische Hallen, direkt in den harten Fels gehauen, prächtige Säulen und belebte Marktplätze unter der Erde zeugten von meisterhafter Baukunst.

Am großen Tor wurden sie von einer Wache angeknurrt, aber sofort durchgelassen.
„Wieso müssen Zwerge immer so knurrig sein?“ fragte Lily extra laut.
„Du bist morgens vor deinem ersten Kaffee genauso“, bemerkte Darin mit einem feinen Lächeln.
Lily streckte ihm die Zunge raus.
Das Magistratsgebäude war nicht zu übersehen – es war der einzige Bau, der so viel Gold an der Fassade hatte, dass man Sonnenbrillen brauchte.
„Ob die mit diesem riesigen Amt irgendwas kompensieren müssen?“ flüsterte Lily.
Funny musste sich das Lachen verkneifen und zerrte stattdessen Darin weiter, der stehengeblieben war, um die statischen Zauber der Fassade zu analysieren.
Bürgermeister Glorn war überraschend freundlich, ja fast herzlich – für einen Zwerg.
„Was beunruhigt Euch, Glorn?“ fragte Funny direkt.
Glorn wurde ernst.
„In den westlichen Randbezirken, tief unten, wo wir neue Wohnbereiche erschließen, häufen sich unheimliche Phänomene. Die provisorische Straßenbeleuchtung beginnt zu flackern. Wenn sie verlischt, hört man ein Flüstern. Es wird lauter und lauter, bis die Lichter wieder anspringen. Meine Arbeiter berichten von einem Zwang, immer tiefer in den Berg gehen zu müssen. Manche sehen Schemen.“

Er schob Darin eine Karte hin. Darin scannte sie mit seinem Handscanner. Das Gerät piepte, schnurrte und pfiff. Dann projizierte es zehn weitere rote Punkte auf die Karte – mit Zeitstempeln in der Zukunft.
„Das ist ein periodisches Phänomen“, stellte Darin fest. „Mein Tricorder – Verzeihung, mein Analysegerät – hat den Algorithmus erkannt. Hier“, er tippte auf einen Sektor, „wird in einer Stunde ein massives Ereignis stattfinden.“
Glorn wurde bleich. Er rief zwei seiner grimmigsten Leibwächter.
„Kommt. Wir gehen runter.“
In die Tiefe
Sie verließen die prachtvollen Hallen. Der Weg führte tief hinab, in roh behauene Stollen. Hier gab es kein Gold, nur grauen Fels, Staub und das Surren der Lüftung.
„Ab hier wird es provisorisch“, sagte Glorn. „Baustellenbeleuchtung.“
Darin blieb stehen.
„Moment.“
Er kramte in seiner Itembox und holte drei unscheinbare Plastikstäbe heraus.
„Knicklichter“, erklärte er. „Chemisches Licht. Keine Magie.“
Funny sah ihn fragend an.
„Wenn das Phänomen magische Lampen stört“, flüsterte Darin, „könnte es auch die Itembox blockieren. Wenn wir da drin sind und das Licht ausgeht, kommen wir an nichts mehr ran, was in der Box ist. Wir sollten sicherheitshalber auch unsere Waffen herausnehmen.“
Er knackte die Stäbe. Es war blaues Licht. Funny und Lily nahmen sie dankbar entgegen und zogen gleichzeitig ihre Waffen.
Sie gingen weiter. Die Luft wurde schwer, und wirkte wie statisch aufgeladen. Plötzlich flackerte die Baustellenbeleuchtung. Einmal. Zweimal. Dann starb das Licht. Schwärze. Darin versuchte, seine Itembox zu öffnen. Sie reagierte nicht.
„Wie ich dachte“, flüsterte er. „Magisches Vakuum. Gut, dass wir die Stäbe haben.“
Dann begann es. Ein Flüstern. Es kam nicht von vorne oder hinten. Es kam aus dem Stein selbst. Es war kein Wort, sondern ein Vibrieren, das direkt im Kopf resonierte. Es klang traurig, drängend und uralt.
Die Zwerge zogen nervös ihre Äxte.
„Geister!“ zischte einer.
Aus dem Schatten schälte sich eine Gestalt. Riesig. Bedrohlich. Ein Höhlenbär, größer als jeder lebende Bär, mit glühenden Augen, erhob sich vor ihnen und brüllte lautlos. Die Zwerge wollten zuschlagen.
„HALT!“ rief Lily und sprang vor. Sie hob ihre Naginata in Verteidigungshaltung, schlug aber nicht zu.
„Wartet!“
Der Bär stürzte auf sie zu – und glitt wie Rauch durch sie hindurch. Ein kalter Schauer lief Lily über den Rücken.

„Er ist nicht echt. Er ist nur ein Bild. Ein Echo.“
Dann veränderte sich der Schemen. Der Bär verschwand. Stattdessen wuselte ein riesiger, urzeitlicher Maulwurf durch den Gang. Lilys angespannte Haltung fiel zusammen.
„Aww… ist der flauschig!“
Funny legte ihr sanft die Hand auf die Schulter.
„Er hat Angst, Li-chan. Spürst du das?“ Funny schloss die Augen. „Da ist keine Bosheit. Nur Verwirrung. Einsamkeit. Und… Schmerz.“
Der Zwang, weiterzugehen, wurde stärker. Es war, als würde der Berg sie rufen. Sie kamen an das Ende des Stollens. Eine Sackgasse.
„Hier haben wir aufgehört“, sagte Glorn zitternd. „Unsere Bohrer versagten. Unsere Sprengzauber verpufften einfach.“
Darin trat an die Felswand. Er hielt die Hand dicht davor, berührte sie aber nicht.
„Spürt ihr das Kribbeln? Das ist wie eine Hochspannungsleitung. Wenn ihr hier mit Magie reingeht, gibt es einen magischen Kurzschluss mit unabsehbaren Folgen.“
Er leuchtete mit dem Knicklicht auf eine winzige Stelle am Boden. „Da. Ein Glitzern.“
„Wir müssen graben“, sagte Funny entschlossen. „Aber von Hand. Vorsichtig. Wie Archäologen.“ Lily seufzte, legte ihre Waffe weg und nahm eine Spitzhacke, die ein Zwerg fallen gelassen hatte.
„Na toll. Manuelle Arbeit.“
Sie gruben. Es war mühsam. Jeder Schlag musste sitzen. Nach einer Stunde brach ein Stück Fels weg. Dahinter lag kein Gestein mehr, sondern ein violetter Schimmer. Sie vergrößerten das Loch und kletterten hindurch.
Das Sanktuarium
Sie standen in einer gigantischen Kaverne. Der Boden, die Wände, die Decke – alles war bedeckt mit riesigen, violett pulsierenden Kristallen.
„Bei den Ahnen…“, hauchte Glorn.
„Urmemory-Kristalle“, flüsterte Darin ehrfürchtig.
Er sah auf seinen Scanner, der verrückt spielte.
„Hört ihr das Flüstern? Das ist kein Rauschen. Das ist ein Rhythmus.“
Er tippte im Takt mit.
„Es ist wie binärer Code. Ein massiver Datentransfer. Das ist kein Angriff. Das ist ein Upload.“
Er sah sich um.
„Die Kristalle speichern die Geschichte dieses Berges. Jede Erdverschiebung, jeder Tropfen Wasser seit Millionen Jahren. Die Vibrationen eurer Bohrer haben sie geweckt. Sie versuchen zu kommunizieren, aber sie kennen unsere Sprache nicht. Sie senden einfach alles, was sie haben.“
Funny trat vor. Die Kristalle summten lauter, das violette Licht wurde unruhig.
„Sie haben Angst“, sagte sie. „Wir sind Eindringlinge in ihrem Schlafzimmer.“
Lily ging auf den größten Kristall in der Mitte zu. Sie legte die Hand flach auf die kühle Oberfläche. Sie zuckte nicht zurück. Ein weicher Ausdruck trat in ihr Gesicht.
„Hallo“, flüsterte sie. „Du bist das Herz, oder?“
Sie drehte sich zu den anderen um.
„Es lebt, wir müssen es beschützen. Wir dürfen ihm nicht wehtun. Es hält den ganzen Berg zusammen.“
Als Blumenelfe spürte sie die tiefe Verbindung zur Natur, die hier, tief im Stein, genauso lebendig war wie in einem Wald.
Die Lösung
„Wir müssen den ‚Upload‘ harmonisieren“, sagte Darin. „Sonst saugt es weiter alle magische Energie ab.“
Er öffnete sein Analysegerät, entfernte ein paar Kabel, baute einen Kristall und eine Spule aus. Dann verband er ein paar der Kupferdrähte mit dem Kristall und der Spule und schuf so einen kleinen Resonanztransponder.
„Funny, ich brauche deine Stimme. Sprich mit ihm. Beruhige es. Ich leite die Schallwellen über den Draht direkt in die Kristallstruktur. Wir geben ihm eine Frequenz, die es versteht.“
Funny nickte. Sie begann, eine alte Elfenmelodie zu summen. Ruhig, sanft, voller Frieden. Darin hielt den improvisierten Sender an den Hauptkristall.
Das wilde Flackern hörte auf. Das chaotische Flüstern glättete sich und wurde zu einem harmonischen, tiefen Summen, das wie ein warmer Mantel um sie lag. Die Kristalle begannen, in einem stetigen, ruhigen Rhythmus zu leuchten.
„Es hat verstanden“, sagte Funny. „Es weiß, dass wir keine Feinde sind.“
Glorn trat vor.
„Und jetzt? Können wir weitergraben?“
Darin schüttelte den Kopf.
„Nicht hier. Diese Ader ist wie ein Nervenstrang. Wenn ihr hier bohrt, ist das, als würdet ihr direkt in ein Gehirn stechen. Aber…“ Er zeigte auf die Karte. „Das Feld ist lokal begrenzt. Ihr könnt drumherum graben. Lasst einen Puffer von fünfzig Metern. Dann stört ihr sie nicht, und sie stören euch nicht.“
Funny lächelte Glorn an.
„Macht diesen Ort zu einem Sanktuarium. Einem Ort der Stille. Wenn man die Kristalle sanft berührt, zeigen sie einem die Geschichte der Welt.“
Glorn legte ehrfürchtig die Hand an den Stein. Vor seinem inneren Auge sah er Feuer, Eis und die Geburt der ersten Zwerge.
„Ein Sanktuarium“, stimmte er zu, sichtlich bewegt. „Niemand wird hier je wieder eine Spitzhacke ansetzen.“
Abschied
Als sie das Höhlensystem verließen und zurück in die beleuchteten Hallen kamen, funktionierte auch Darins Itembox wieder. Die Zwerge verabschiedeten sie mit tiefem Respekt und weniger Knurren als bei der Ankunft.
Draußen vor dem Tor atmete Lily tief die kalte Nachtluft ein. Das Abenteuer war vorbei, das Rätsel gelöst, und niemand musste sterben. Sie streckte die Arme weit aus, grinste breit und rief so laut, dass es von den Bergen widerhallte: „HOCH DIE HÄNDE – WOCHENENDE!“

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