Die Luft in der Abenteurergilde von Civitas Aurelia war dick vom Geruch alten Biers und Schweiß – und das metallischen Klirren von Rüstungen war allgegenwärtig. Es war laut. Es war voll. Und Lily war furchtbar gelangweilt.
„Noch ein Goblin-Auftrag und ich raste aus“, knurrte sie und stemmte ihre Naginata wie einen Spazierstock auf den Boden. Ihre Elfenflügel zuckten gereizt.
„Geduld, Lily. Qualität vor Quantität“, erwiderte Funny, ohne von der riesigen, vollgepfropften Auftragstafel aufzublicken. Ihre himmelblauen Augen überflogen die Pergamente.
„Ah, hier ist etwas.“
Sie zupfte einen unscheinbaren Zettel hervor.
Darin, der still daneben stand und seine Brille putzte, spähte über ihre Schulter.
„Lass mich raten“, stöhnte Lily. „Wieder kein Drache?“
„Nein“, sagte Funny.
„Dann wenigstens ein Dämonenlord?“
„Nein.“
„Bloss kein Schleim-Monster, das die Kanalisation verstopft!“
„Auch nicht“, sagte Funny lächelnd und dann wurde ihre Stimme ernst.
„Hört zu: ‚Dringend. B-Rang. Ein armer Holzfäller am Rande des Schwarzen Waldes. Zwei Töchter…‘“
„STOPP!“, rief Lily so laut, dass sich drei Zwerge an der Theke erschrocken umdrehten. „Keine Chance, Fun-chan. Absolut nicht. Ich mache keinen Auftrag, der die Worte ‚Holzfäller‘ und ‚Wald‘ enthält!“
Funny hob erstaunt eine Augenbraue. „Dürfte ich höflichst nach dem Grund für diese… spezifische Aversion fragen?“
„Weil die Typen den Wald kaputt machen!“, fuhr Lily sie an, jetzt merklich hitzig. „Die schwingen ihre Äxte und ‚Hau-ruck!‘ und ‚Baum fällt!‘, und was ist mit den armen Eichhörnchen? Und den Füchsen? Und den Dryaden? Holzfäller sind Baum-Mörder! Ich verbünde mich nicht mit Baum-Mördern!“

Darin seufzte leise und schob seine Brille hoch.
„Das ist, mit Verlaub, Lily, eine weit verbreitete Fehleinschätzung. Zumindest hier in Feenland.“
„Aha?“, knurrte Lily und verschränkte trotzig die Arme.
„Ja“, fuhr Darin mit seiner ruhigen, logischen Stimme fort. „Die Holzfäller-Gilde hier ist eher für die… Forst-Hygiene zuständig. Sie fällen keine gesunden Bäume, wenn es nicht sein muss. Sie legen Pfade an, damit Abenteurer sich nicht verlaufen. Sie entfernen Totholz, bevor es zu einer Plage wird, und sorgen dafür, dass die Sonnenlicht-Lichtungen für magische Kräuter frei bleiben. Sie sind im Grunde… Hausmeister des Waldes.“
„Klingt für mich immer noch nach Axt-schwingenden Verrückten“, grummelte Lily. „Bäume sind Freunde.“
Irgendwie konnte selbst Lily nicht immer verstecken, dass sie durch und durch eine Blumenelfe war, die die Natur und insbesondere den Wald liebte.
„Es geht nicht um die Berufsbezeichnung des Klienten, Lily“, unterbrach Funny sie sanft. Aber ihr Blick wurde stählern. „Es geht um zwei verschwundene junge Mädchen. Und der Auftrag wurde als B-Rang eingestuft. Das passiert nicht, wenn sich jemand nur im Wald verläuft.“
Sie tippte auf das Pergament.
„Das ist ein klassischer Entführungsfall mit Verdacht auf magische Einflussnahme. Wir nehmen ihn an.“
Lily wollte protestieren, aber ein Blick in Funnys himmelblaue Augen ließ sie verstummen.
„Na gut“, brummte sie. „Aber wenn ich sehe, wie der Typ auch nur ein Gänseblümchen umknickt, kriegt er Ärger mit mir!“
* * *
Die Hütte des Holzfällers, Einar, lag etwas versteckt am Rande des unheimlichen Schwarzen Waldes. Der Mann selbst war ein Häufchen Elend. Er saß an einem groben Holztisch, sein Gesicht in den Händen vergraben.
„Ich versteh’s nicht“, stammelte er, nachdem Funny ihn mit ihrer sanften, empathischen Art beruhigt hatte. „Erst die Älteste, Elara. Sie sollte mir das Mittagessen bringen. Ich hatte Hirse gestreut, damit sie den Weg findet. Elara kam nie an.“
Lily schnaubte leise.
„Hirse. Genial. Als ob die Vögel Urlaub machen.“
Einar zuckte zusammen.
„Ich… ich dachte…“
„Fahrt fort, Herr Einar“, sagte Funny und warf Lily einen warnenden Blick zu.
„Ja. Am nächsten Tag schickte ich die mittlere, Myra. Ich dachte, heute bin ich schlauer. Ich hab Linsen genommen! Die sind größer!“, sagte er verzweifelt. „Auch weg. Spurlos. Als hätte der Wald sie verschluckt.“
Während Funny im Haus die Details erfragte und Lily misstrauisch die Axt-Sammlung des Mannes an der Wand beäugte, war Darin nach draußen gegangen. Er hatte seinen Aura-Peilsender heraus geholt, ein kompliziertes Gerät aus Messing und rotierenden Kristallen. Er ging langsam den Pfad entlang, der in den Wald führte.

„Funny! Lily! Kommt mal her!“, rief er plötzlich.
Die beiden Elfen traten vor die Hütte. Darins Gerät summte mit einem hohen, klagenden Ton. Er hielt es über den Waldboden, direkt am Anfang des Pfades. „Die Hirse und die Linsen waren ein guter Gedanke“, sagte Darin und tippte auf die Anzeige seines Geräts. „Aber die Vögel waren nicht das einzige Problem. Seht ihr das?“
„Ich sehe… äh, was sehe ich?“, fragte Lily.
„Ich sehe eine deutliche Signatur“, erklärte Darin. „Hier liegt eine Lure-Magie. Eine Verwirr-Magie. Sie ist schwach, aber extrem persistent. Sie überlagert den eigentlichen Pfad. Sie lockt dich hinfort, lässt dich glauben, du wärst richtig, während sie dich immer tiefer in den Wald zieht. Sie ist speziell auf… junge, unvorsichtige Menschen kalibriert.“
Funny nickte, ihre strategischen Gedanken ratterten.
„Ein klassischer Entführungsfall, getarnt als Unglück. Ein Dämon, der sich seine Opfer aussucht und sie mit Magie direkt zu sich lotst.“
Lilys Miene verfinsterte sich. Ihre Abneigung gegen den Holzfäller war vergessen, ersetzt durch kalte Wut.
„Ein Entführer. Ein fieser, magischer Mädchen-Schnapper.“
Sie packte ihre Naginata fester.
„Okay, dem Wald-Fuzzi helfen wir. Aber nur, um diesem Dämon in den Hintern zu treten!“
„Exakt“, sagte Funny. „Aber wir können der Magie nicht einfach folgen. Das wäre zu offensichtlich. Wenn der Yōkai zwei Mädchen gefangen hat, erwartet er vielleicht ein drittes.“
Sie blickte zu Einar zurück, der hoffnungsvoll in der Tür stand.
„Herr Einar“, sagte Funny. „Ihr habt noch eine dritte Tochter, nicht wahr?“
Einar nickte.
„Ja, Meine jüngste. Aber sie schicke ich da auf keinen Fall rein!“
„Das müsst Ihr auch nicht“, sagte Funny mit einem dünnen Lächeln. „Denn die Rolle Eurer jüngsten Tochter… übernehme ich.“
Lily starrte sie an.
„Du willst dich entführen lassen? Fun-chan, bist du jetzt völlig übergeschnappt? Wir sind Blumenelfen, keine Lockvögel!“
„Ich lasse mich nicht entführen, ich werde infiltrieren“, korrigierte Funny.
„Das ist ein guter Plan“, mischte sich Darin ein. Er rollte eine Karte aus. „Der Dämon erwartet ein bestimmtes Verhaltensmuster. Funny wird dieses Muster durchbrechen. Währenddessen tracken wir sie. Ich habe diesen Aura-Peilsender modifiziert.“
Er hielt einen kleinen, blauen Kristall hoch.
„Solange Funny ihn trägt, sehe ich ihre Position. Wir folgen im Schatten. Funny ist der Köder, aber wir sind der Haken.“
Lily schmollte und grummelte. Es war ihr nicht geheuer, Funny einfach alleine gehen zu lassen.
* * *
Zurück in der Hütte des Holzfällers sortierte Funny: „Darin hat recht. Wir müssen das erwartete Verhaltensmuster unterbrechen. Aber warum zielt er speziell auf junge Frauen ab?“
Lily schnaubte.
„Na toll. Also nicht nur ein Dämon, sondern ein perverser Dämon. Das macht die Sache nicht besser, nur ekelhafter.“
„Die Frage ist immer noch warum“, wehrte Funny Lilys Einwurf ab und wandte sich wieder an Einar, der am Tisch kauerte. Ihre Stimme wurde sanft.
„Herr Einar, die von Darin entdeckte Magie ist sehr spezifisch. Um die Falle zu verstehen, müssen wir den Köder verstehen. Sagt mir… wie sind Eure Töchter? Elara und Myra.“
Einar wich ihrem Blick aus.
„Sie… sie sind gute Mädchen… meistens.“
„Bitte“, drängte Funny, ihre himmelblauen Augen fixierten ihn. „Jedes Detail kann überlebenswichtig sein. Was mögen sie? Was tun sie?“
Der Holzfäller seufzte schwer.
„Nun… Elara, die Älteste… sie weiß, was sie will. Sie fordert viel, sehen Sie. Sie ist der Meinung, das Leben hier im Wald sei unter ihrer Würde. Myra ist ähnlich. Sie… nun, sie sind nicht begeistert von Hausarbeit. Sie beschweren sich, wenn das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch steht, und sind nur selten bereit, selbst mit anzupacken.“
„Klingt nach sehr verwöhnten Gören“, murmelte Lily leise zu Darin, der nur stumm nickte.
„Und sind sie… wehrhaft?“, fragte Funny weiter. „Können sie sich im Wald selbst verteidigen?“
Jetzt schüttelte Einar heftig den Kopf.
„Nein! Beim besten Willen nicht! Sie sind unerfahren, was Gefahren betrifft. Sie können nicht mal eine Axt richtig halten, geschweige denn… ach, Götter, sie sind da draußen völlig hilflos!“
Funny nickte langsam. Das Bild fügte sich zusammen.
„Ich verstehe.“
Sie drehte sich zu ihrem Team um. „Der Dämon – vorausgesetzt, es ist ein Dämon – sucht sich also eine ganz bestimmte Art von Opfer: Jung, unerfahren, leicht zu manipulieren und… vielleicht… mit einer gewissen Erwartungshaltung. Mein Plan bleibt bestehen. Ich gehe als die ‚dritte Tochter‘ hinein.“
Lily starrte sie an, als wäre ihr ein dritter Flügel gewachsen.
„Wirklich? Das war also ernst gemeint? Du willst… hilflos spielen?“
Sie prustete los.
„Fun-chan, echt! Du? Die Elfe, die einen Schlachtplan für’s Frühstück macht? Du wirst da reingehen und sagen: ‚Entschuldigen Sie bitte, Herr Dämon, Eure Entführungsmethode ist strategisch suboptimal! Rück die Mädchen raus!‘ Das wird ein Knaller!“
Funny blieb unbeeindruckt.
„Dein Vertrauen in mein schauspielerisches Talent ist… zur Kenntnis genommen, Lily.“
Doch Lilys schelmische Miene verschwand sofort und machte blanker Sorge Platz. Ihre Stimme wurde ernst.
„Fun-chan… das ist verrückt. Wir wissen nicht, was da drin ist. Wir haben keine Ahnung, wie gefährlich der Gegner wirklich ist. Es könnte ein Oger sein. Ein Troll. Ein Dämon, der Mädchen frisst! Lass uns das auf die altmodische Art machen!“
Sie umklammerte ihre Naginata.
„Ich nehme meine Klinge, Darin nimmt seine Axt. Wir fliegen rein, machen Lärm und hauen alles kurz und klein. Wir sind in einer Stunde wieder da, mit den Mädels.“
„Das können wir nicht, Lily“, sagte Darin leise und legte seine Hand auf ihren Arm. Seine braunen Augen waren ernst. „Wir wissen nicht, wo die Geiseln sind. Wenn wir blind angreifen, bringt der Entführer sie vielleicht um. Das ist eine Geiselnahme, keine Schlacht. Funnys Infiltration ist die einzig logische Vorgehensweise.“
Lily biss sich auf die Lippe, sichtlich unzufrieden, aber sie nickte.
„Na gut. Aber wenn dieser Mistkerl dir auch nur ein blaues Haar krümmt, Fun-chan, dann garantiere ich für nichts mehr.“
Funny lächelte dankbar.
„Notiert.“
Sie wandte sich an Einar.
„Herr Einar, ich benötige Kleidung. Hat Eure jüngste Tochter ein Kleid, das ich mir leihen darf? Etwas… Simples.“
Ein paar Minuten später trat Funny aus der Hütte. Sie trug ein einfaches, leichtes Leinenunterkleid, das einzige, was ihr von den Kleidungsstücken von Einars jüngster Tochter passte. Ihre blauschimmernden Dolche, ihre übliche Kleidung, Darins Peilsender und auch ihre Elfenflügel verbarg ein einfacher Zauber.

„Oh, Götter“, flüsterte Lily zu Darin, während sie ihre Flügel spannten. „Wahnsinn Funny. Das ist… fast überzeugend.“
Funny lächelte sie an, dann atmete sie tief durch und nahm die Haltung eines verängstigten, verlorenen Mädchens an. Sie schien fast zu zittern.
„Phase Eins beginnt“, flüsterte sie. „Folgt mir in zehn Minuten. Und Lily? Sei bitte leise und unauffällig!“
Funny humpelte theatralisch den Pfad entlang und verschwand hinter der ersten Biegung im Schwarzen Wald. Darin und Lily tauschten besorgte Blicke aus, stießen sich vom Boden ab und stiegen lautlos wie Eulen über die dichten Baumkrone auf, um sie von oben im Blick zu behalten.
* * *
Tief in der Nacht, genau wie geplant, erreichte Funny eine Lichtung. Darauf stand ein unheimliches Haus, aus dem ein schwaches Licht drang.
Perfekt, dachte Funny. Auftritt: Verängstigtes Mädchen.
Sie klopfte. Eine raue, knarrende Stimme rief: „Herein!“
* * *
Darin und Lily landeten lautlos auf dem Dach des Hauses. Ihre geräuschlosen Flugkünste machten sie zu perfekten Spähern. Darin zog ein kleines optisches Periskop hervor und schob es durch einen Spalt im Kamin.
„Sie ist drin. Der Gastgeber ist… interessant. Es ist kein Dämon, es ist ein Yōkai. Hohe Energiestufe.“
Auch Lily blickte durch das Periskop. Als sie den uralten Opa musterte, meinte sie verwundert: „Der sieht aus wie Opa Groll, erinnerst Du dich Darin? Unser letzter Auftrag, der grimmige Oger-Opa.“
Doch Darin hörte aus Sorge um Funny kaum zu.
* * *
Funny betrat die Stube. Es war düster. Ein alter, eisgrauer Mann saß an einem Tisch. Sein Bart war so lang, dass er über den Tisch bis auf den Boden reichte. Am Ofen lagen drei Gestalten, die Funny sofort als Yōkai erkannte, auch wenn sie sich als Tiere tarnten: Ein weißes Hähnchen (das nach Schwefel roch), ein weiterer allerdings brauner Hahn und eine buntgescheckte Kuh (die viel zu intelligent dreinblickte).
„Was willst du, Gör?“, knarrte der Alte.
„Verzeiht die Störung, mein Herr“, sagte Funny mit ihrer besten ‚ich-bin-verloren‘-Stimme. „Ein Sturm zieht auf und ich fürchte, ich habe mich verirrt. Dürfte ich um Obdach für die Nacht bitten?“
Der Alte musterte sie misstrauisch. Dann fragte er die Tiere: „Weißhähnchen, Braunhähnchen, und du schöne bunte Kuh, was sagt ihr dazu?“
Ein vielstimmiges „DUKS!“ erscholl, das allerdings mehr wie ein Knurren klang.
„Wir sind es zufrieden“, übersetzte der Alte grimmig. „Aber hier wird niemand umsonst beherbergt. Dort ist die Küche. Koch uns ein Abendessen. Und zwar ein Gutes!“
„Aber gewiss, mein Herr“, sagte Funny und machte einen höflichen Knicks.
Auf dem Dach flüsterte Lily empört: „Er macht sie zur Hausmagd! Das reicht! Ich stürme rein!“
„Still!“, zischte Darin. „Sie folgt dem Plan. Sieh nur!“
In der Küche fand Funny tatsächlich alles vor, was für ein ordentliches Abendessen notwendig war. Sie bereitete eine reichhaltige Suppe mit frisch geschnittenem Brot zu. Der Duft erfüllte schnell die Hütte. Doch bevor sie die Schüssel zum Tisch trug, tat sie etwas Unerwartetes. Sie nahm drei kleine Schalen, füllte sie mit den besten Stücken der Suppe, holte Gerste für die Hähne und eine Handvoll süß duftendes Heu für die Kuh.
Sie trat vor die Tiere, die sie feindselig anstarrten.
„Verzeiht“, sagte sie sanft. „Ihr müsst ja einen Bärenhunger haben. Ihr bewacht dieses Haus so tapfer, da habt Ihr Euch eine Stärkung verdient.“
Sie stellte die Schalen hin. Die Hähnchen pickten misstrauisch, dann gierig. Die Kuh schnaubte, als Funny sie furchtlos zwischen den Hörnern kraulte.
„So ein schönes flauschiges Fell.“

Dann erst bediente sie den Alten. Er starrte sie mit offenem Mund an.
„Du… du hast die Biester zuerst gefüttert?“
„Aber gewiss“, sagte Funny. „Loyalität und Wachsamkeit sollten stets belohnt werden, findet Ihr nicht?“
Sie aßen. Der Alte war unheimlich still. Als sie fertig waren, gähnte Funny gespielt.
„Ich bin so müde. Wo könnte ich schlafen?“
Die Tiere antworteten im Chor, aber diesmal klang das „Duks“ fast freundlich: „Du hast mit uns gegessen, du hast mit uns getrunken, du hast uns alle wohl bedacht, wir wünschen dir eine gute Nacht.“
Der Alte war sichtlich irritiert.
„Treppe hoch. Zwei Betten. Mach sie frisch. Ich komme dann auch.“
Funny stieg nach oben.
Auf dem Dach zischte Lily: „Zwei Betten? Der will doch was von dir! Jetzt stürme ich aber rein!“
„Nein, Lily!“, sagte Darin. „Bleib Aufmerksam, aber warte!“
Funny fand eine staubige Kammer mit zwei Betten. Sie schüttelte das eine für sich auf. Dann hielt sie inne, blickte auf das andere, das mit Spinnweben bedeckt war. Sie seufzte.
„Oje, oje“
Mit angewidertem, aber entschlossenem Gesicht schüttelte sie auch das Bett des Alten auf, klopfte das Kissen aus und legte die Decke ordentlich zusammen und kehrte sogar den Boden fein säuberlich auf.
Dann legte sie sich hin, eine Hand immer an einem der versteckten Dolche unter ihrem Kleid.
* * *
Der alte Mann kam die knarrende Treppe herauf. Funny hörte ihn, hielt aber die Augen geschlossen und verlangsamte ihre Atmung. Nun umklammerte auch die andere Hand den zweiten Dolch unter der Decke.
Der Yōkai-Opa betrat das Zimmer. Er erstarrte. Das Zimmer war… aufgeräumt. Der Staub war zu einem ordentlichen Haufen zusammen gekehrt. Und sein Bett… sein Bett, das er seit fünfzig Jahren nicht mehr aufgeschüttelt hatte, war ordentlich gemacht.
Verwirrt näherte er sich Funnys Bett. Er betrachtete das „schlafende“ Mädchen. Sie hatte seinen Test, mit dem er alle Mädchen prüfte, bestanden. Sie war anders. Sie hatte sein Bett gemacht. Er hob langsam die Hand, nicht um zu schlagen, sondern um vielleicht… ihre Stirn zu berühren? Eine Geste, die er selbst nicht verstand.
Auf dem Dach starrte Lily durch Darins magisches Periskop. Sie sah alles. Sie sah den Alten, wie er sich über Funny beugte. Sie sah, wie er die Hand hob.
Bei Lily brannten in diesem Moment sämtliche Sicherungen durch.
„ER WILL SIE ANGRABSCHEN!“, kreischte sie, ihr Verstand vernebelt von Sorge und Wut. „DIESER MIESE, ALTE LÜSTLING! DARIN, ER RÜHRT SIE AN! ICH RASTE AUS!“
„Lily, warte! Meine Messwerte zeigen keine Aggression!“, rief Darin, aber es war zu spät. Lilys Zorn war wie eine Naturgewalt, einmal entbrannt, nicht mehr aufzuhalten.
„PLAN B WIRD SOFORT ZU PLAN A(NGRIFF)!“, brüllte sie.
Mit einem ohrenbetäubenden KRACH! explodierte das Dachfenster über dem Schlafzimmer in einem Regen aus Glas und Schindeln. Lily stürzte wie ein roter Komet herein, ihre Naginata auf das Herz des Alten gerichtet.
„HÄNDE WEG VON MEINER FREUNDIN, DU OPA GROLL!“
Fast im selben Moment krachte die Schlafzimmertür aus den Angeln. Darin der Lily gefolgt war, hatte sich sofort um die Tür gekümmert. Er stand im Rahmen, seine gewaltige Doppelaxt in der Hand, die Augen hinter der Brille zu Schlitzen verengt. Er sicherte den einzigen Fluchtweg.
Der alte Mann heulte auf, eine Mischung aus Schreck und Wut über die rohe Gewalt.
„EINDREINGLINGE! SCHÄNDUNG!“
Seine menschliche Hülle zerfiel. Er schoss in die Höhe, die Augen glühten rot, und sein langer, weißer Bart explodierte in einem Gewirr aus dicken, peitschenden Tentakeln. Er war nicht mehr der Alte. Er war ein Wesen aus Zorn.
„Wie könnt ihr es wagen so in mein Haus einzudringen!“, kreischte er und parierte Lilys wilden Hieb mit drei Tentakeln gleichzeitig.
„DU HAST ES SO GEWOLLT, DU TENTAKEL-SPINNER!“, schrie Lily zurück. „Niemand darf Funny anfassen!“
„Ich hab sie nicht angefasst, du hysterisches Gänseblümchen!“
„Lüg nicht! Ich hab’s gesehen! Du widerlicher, alter… Bart-Kraken-Perversling!“
Es war ein Chaos. Das Schlafzimmer war viel zu klein für eine Naginata und einen wütenden Yōkai.

Genau in diesem Moment brach der Boden neben Darin auf. Das weiße Hähnchen (jetzt ein lodernder Basan-Feuervogel), das braune Hähnchen (ein knisterndes Raijū-Blitz-Wiesel) und die Kuh (ein riesiger, dampfender Ushi-Oni) stürmten ins Zimmer.
„MEISTER!“, brüllten sie.
Darin fluchte.
„Verdammt! Drei gegen einen. Ich könnte Hilfe gebrauchen!“
Er stemmte seine Axt gegen den Ushi-Oni und wurde beinahe von einem Blitz des Raijū am Arm getroffen.
Funny war aufgesprungen, ihre beiden blauschimmernden Dolche kampfbereit in den Händen. Sie hatte das Zaudern des Alten bemerkt. Sie wollte reden. Aber jetzt war Darin in Schwierigkeiten.
„Lily, er wollte mich nicht angreifen!“, rief sie.
„ERZÄHL DAS MEINER NAGINATA!“, schrie Lily zurück, während sie einem Tentakel-Hieb auswich, der das Bettgestell zerschmetterte.
Funny musste Darin helfen. Sie liess ihr Kleid fallen und war wieder in ihren Bikini gekleidet. Sie entfaltete ihre Flügel und sprang zwischen ihn und die drei Tier-Yōkai.
„Stopp! Wir wollen nicht kämpfen!“
Sie wich einem Feuerball aus, blockte einen Klauenhieb und duckte sich unter den Hörnern des Ushi-Oni hindurch. Sie kämpfte rein defensiv, ein anmutiger blauer Blitz, sie parierte hier und konterte da. Sie verschaffte so Darin etwas Luft, der dadurch immer mal wieder auf eines seiner Messinstrumente schauen konnte.
„Sie ziehen Energie aus dem Haus!“, rief er.
Er sah die leuchtenden magischen Linien im Boden. Mit einem gezielten Hieb seiner Axt durchtrennte er ein Bündel davon. Magisch verstärkte er ein kleines Gerät an seinem Gürtel, welches die Energie umleitete.
Draußen, über dem dunklen Wald, explodierte die gekappte und nach draußen geleitete Energie in einem stillen, prächtigen Feuerwerk aus blauen und goldenen Funken, das niemand bemerkte.
„Was tust du da, du Strubbel-Elf!?“, zischte der Raijū, als seine Blitze schwächer wurden.
Aber der Kampf wurde nur noch hitziger. Lily und Opa Groll lieferten sich ein unerbittliches Duell in der Mitte des verwüsteten Zimmers.
„Du bist ja noch langsamer als mein Kaffeesatz am Morgen!“, spottete Lily und wirbelte ihre Klinge.
„Und du bist lauter als ein ganzer Hühnerstall voller Basane!“, konterte der Yōkai und fegte sie mit einem Tentakel von den Füßen.
„Ihr Menschen seid alle gleich!“, grollte währenddessen der Ushi-Oni und stampfte wütend auf. „Immer nur NEHMEN, NEHMEN, NEHMEN!“
„Undankbares Pack!“, zischte der Basan. „Nie bereit, auch nur einen Finger zu rühren! Aber immer wollen, wollen, wollen!“
Funny parierte einen weiteren Hieb, und jetzt reichte es ihr. Die Sorge um Darin, der blinde Zorn Lilys, die Frustration der Yōkai – es war zu viel.
„JETZT HÖRT DOCH MAL AUF!“, brüllte Funny.
Ihre Stimme war so laut und voller Autorität, dass selbst Lily erstarrte.
„MAN KANN NICHT ALLE ÜBER EINEN KAMM SCHEREN!“, schrie Funny, ihre Geduld war ausgereizt. „ICH HABE EUCH GEFÜTTERT! ICH HABE EUCH DAS BESTE ESSEN GEKOCHT – OBWOHL BEI UNS EIGENTLICH DARIN KOCHT, WEIL ER ES VIEL BESSER KANN!“
„Sein Kaffee ist ein Traum. Den müsst ihr mal probieren!“, rief Lily automatisch aus dem Hintergrund, was die Situation absurd entspannte.
„…UND ICH HABE DIE KUH GESTREICHELT!“, fuhr Funny fort, jetzt wieder leiser, aber zitternd vor aufgestauter Emotion. „WEIL SIE SO EIN SCHÖNES, FLAUSCHIGES FELL HATTE UND MIR LEID TAT!“
Der Kampf gefror. Buchstäblich. Darin hielt seine Axt in der Luft. Opa Grolls Tentakel hingen schlaff herab.
Lily blinzelte.
„Fun-chan… du bist unbegreiflich. Du bist ja… du bist ja wirklich so höflich. Du hast diese Dämonen-Kuh gestreichelt?“
Der riesige Ushi-Oni senkte langsam seinen monströsen Kopf. Er sah Funny mit seinen großen, traurigen Augen an.
„Sie… hat mich gestreichelt“, dröhnte seine Stimme. „Sie hat mein Fell ‚flauschig‘ genannt.“
Er drehte seinen Kopf zu Opa Groll.
„Das hat seit hundert Jahren niemand mehr getan. DU AUCH NICHT, MEISTER!“
Opa Groll zuckte zusammen, als hätte ihn ein Blitz getroffen. Er blickte verschämt auf den Boden, seine Tentakel zogen sich ein. Er erinnerte sich an das ordentliche Zimmer. Und an sein sauberes, frisch aufgeschütteltes Bett.
Darin ließ seine Axt sinken und schob seine Brille zurecht.
„Interessant. Funnys Empathie-Wellen haben den negativen Energiefluss, von dem ihr euch ernährt, vollständig zum Versiegen gebracht.“
Stille.
Der Basan schüttelte verlegen seine glühenden Federn. Lily ließ ihre Naginata auf den Boden sinken.
„Okay“, sagte sie. „Das… ist jetzt irgendwie peinlich. Es sieht so aus, als hätten wir ein wenig… überreagiert.“
Alle sahen sich betreten an. Es war erschreckend, wie schnell die Situation sinnlos eskaliert war, nur weil man nicht miteinander geredet hatte.
* * *
„Wo sind die Mädchen?“, fragte Funny den Alten nach einer Weile sanft und steckte ihre Dolche weg.
Opa Groll führte sie nach unten und deutete mürrisch auf eine Falltür. Darin öffnete sie. Funny stieg vorsichtig in einen dunklen Keller hinab. Dort klammerten sich Elara und Myra ängstlich aneinander. Der Lärm des Kampfes war sogar bis hier her, in die Verliese, gedrungen.

„Bitte… tu uns nichts!“, rief Elara, als sie Funny sah. „Es tut uns leid!“
„Wir… wir waren so undankbar!“, schluchzte Myra. „Wir haben die Tiere ignoriert und… wir wollten das nicht… wir hatten nur Angst und Hunger und haben uns furchtbar benommen!“
Funny half den beiden auf die Beine.
„Kommt. Ich glaube, es ist Zeit für eine Entschuldigung.“
Oben sahen die beiden verängstigten Mädchen den zornigen Yōkai und seine drei monströsen Diener. Sie fielen sofort auf die Knie.
„Es tut uns aufrichtig leid, Herr!“, sagte Elara mit zitternder Stimme. „Wir… wir haben Eure Gastfreundschaft missbraucht und Eure Diener schlecht behandelt. Wir haben nur an uns gedacht.“
Opa Groll starrte sie an, sichtlich verblüfft. Er strich sich über seinen langen, weißen Bart.
„Hm. Eine Entschuldigung. Das ist… neu.“
Der riesige Ushi-Oni (die Kuh) schnaubte und nickte dann langsam mit seinem massiven Kopf.
„Duks. Akzeptiert.“
„Na seht ihr!“, rief Lily und schulterte ihre Naginata. „Geht doch! Aber mal ehrlich, Opa Groll, dein System ist Mist.“
„Lily…“, warnte Funny.
„Nein, im Ernst!“, fuhr Lily fort. „Du entführst Kids, um ihnen Manieren beizubringen? Sorry, das geht gar nicht. Du musst das cleverer machen! Und viel lukrativer!“
„Lukrativer?“, fragte Opa Groll. Seine Ohren spitzten sich.
„Ja! Mach ’ne Herberge auf! Eine richtige!“, erklärte Lily begeistert. „Und du machst ’ne Zweiklassengesellschaft. Wer reinkommt und höflich ist, ‚Hallo Hähnchen, hallo Kuh‘ sagt und sein Waffen ordentlich an der Garderobe abgibt… der kriegt das volle Programm! Warme Suppe, weiches Bett, alles!“
„Und wer unhöflich ist?“, fragte Darin mit einem Anflug von Interesse.
„…der kommt in den Keller!“, rief Lily triumphierend. „Genau! In dein ‚Verlies‘! Bei Wasser und Brot! Und wer gewalttätig wird, den dürfen Hähnchen und Kuh ein bisschen… disziplinieren.“
Die drei Tier-Yōkai blickten sich an. Der feurige Basan (das weiße, jetzt goldgelb lodernde Hähnchen) stieß einen aufgeregten, knisternden Laut aus.
„Und… die Leute würden… bezahlen? Für ein Bett?“, fragte Opa Groll ungläubig.
„Garantiert“, sagte Funny. „Abenteurer, Händler… sie alle brauchen einen sicheren Hafen im Wald. Sie werden Eure Regeln respektieren, wenn sie wissen, dass Freundlichkeit belohnt wird.“
„Gut!“, knarrte Opa Groll. „Testen wir es! Ihr seid die ersten Gäste!“
Seine monströse Gestalt schrumpfte endgültig zurück in die des alten Mannes. Er rieb sich die Hände.
„Willkommen im Waldhaus! Seid ihr höflich?“
Funny lächelte und machte einen formvollendeten Knicks.
„Guten Abend, mein Herr. Wir danken für Eure Gastfreundschaft. Eure Diener sind formidable Wächter.“
Darin nickte.
„Ein solides Haus. Danke für die Unterkunft.“
„Ausgezeichnet!“, strahlte der Alte. „Für euch die besten Zimmer!“
Lily musterte unterdessen den Basan, der wie ein großes, glühendes Hühnchen aussah. Erst jetzt erkannte sie, wer da mitgekämpft hatte.
„Oooh!“, rief sie. „Du bist ja ein Feuervogel! Ein Basan! Du bist ja fast wie ein Mini-Drache! Ich liebe Drachen!“
Bevor Funny sie warnen konnte, stürmte Lily auf den Yōkai zu und begann, ihn zu knuddeln.
„Wer ist ein feines, heißes Hähnchen? Wer ist ein guter Junge? Ja, du!“
Der Basan, der jeden anderen dafür gegrillt hätte, erstarrte. Dann begann er, seine glühenden Federn aufzuplustern und ein Geräusch von sich zu geben, das wie ein schnurrendes Lagerfeuer klang. Er genoss die Streicheleinheiten sichtlich.

„Hahaha!“, lachte Opa Groll. „Sehr gut! Ihr habt alle bestanden! Selbst die Laute!“
„Hey!“, rief Lily, ihr Gesicht immer noch an den warmen Vogel gedrückt.
Am nächsten Morgen, bevor sie gingen, nagelte Funny ein neues, ordentliches Schild an die Tür der Hütte, das Darin schnell magisch graviert hatte:
Waldherberge „Zum Grollenden Bart“ (Management: Opa Groll & Partner)
Freundlichkeit bringt Komfort. Bösartigkeit landet im Verlies.
„Viel Erfolg mit dem Geschäft“, sagte Funny.
„Kommt bald wieder!“, rief der Alte winkend. „Die Kuh vermisst Eure Streicheleinheiten jetzt schon“
„Nur wenn das Feuerhähnchen auch da ist!“, rief Lily zurück und winkte dem Basan zu, der traurig aus dem Fenster blickte.
Dann brachten sie die sehr eingeschüchterten Elara und Myra zu ihrem Vater zurück und kassierten ihre Belohnung.
Und im Wald gab es nun eine neue Herberge, die sich schnell den guten Ruf erwarb, dass es dort immer sehr zivilisiert zuging.































Schreiben Sie einen Kommentar