Das Flüstern der Rosen
Ein Wispern zog am frühen Morgen über die bunte Blumenwiese, die das Herz des Elfentals bildete. Es war ein Meer aus Farben und Düften, doch heute dominierten die Rosen, die Lieblingsblumen des Fürstenpaares, die sanfte Melodie des neuen Tages. Das Wispern begann bei den Gänseblümchen, wurde von den Tulpen aufgenommen und von den stolzen Lilien weitergetragen, bis es die Rosenknospen erreichte, die im ersten Licht zitterten.

„Es ist soweit“, flüsterte eine japanische Rose.
„Es ist soweit“, zirpte eine elegante Teerose zurück.
„Es ist soweit“, summte die ganze Wiese in freudiger Erwartung.
Die Vögel, kleine gefiederte Boten der Lüfte, nahmen das Wispern auf. Ein Schwarm Finken stob auf und trug die Nachricht durch das ganze Tal, ihre aufgeregten Rufe ein fröhliches Lied. Einige von ihnen landeten auf dem Fenstersims des fürstlichen Schlafgemaches und begannen ein besonders eifriges Konzert.
Vienna, Fürstin des Elfentals, wurde von dem fröhlichen Lärm wach. Das Sonnenlicht malte goldene Streifen durch die Vorhänge auf ihr Gesicht. Sie lauschte einen Moment, ein Lächeln auf ihren Lippen. Sie verstand die Sprache der Vögel, wie es alle Blumenelfen taten, und ihr Herz machte einen Sprung. Sie drehte sich zu ihrem Gemahl um, der noch friedlich schlief, seine dunkelblauen Haare ein reizvoller Kontrast zu dem weißen Leinen der Kissen. Sanft rüttelte sie an seiner Schulter.
„Mein Liebster, wach auf“, flüsterte sie. „Es ist soweit.“
Der Fürst, ein Mann von ruhiger und bedächtiger Natur, schlug ein Auge auf.
„Es ist soweit?“, murmelte er schlaftrunken. Dann riss er beide Augen auf, die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. „ES IST SOWEIT!“
Mit einem Jauchzen, das für seine sonst so zurückhaltende Art völlig untypisch war, sprang er aus dem Bett. Barfuß, wie alle Elfen, wollte er geradewegs zur Tür und hinaus zur Blumenwiese stürzen.
Vienna lachte hell auf.
„Mein lieber Gemahl“, rief sie ihm nach, ihre Stimme voller Zuneigung. „Du könntest dir doch wenigstens ein Hemd überstreifen! Wir wollen unsere Tochter doch nicht gleich bei ihrer Ankunft erschrecken.“
Der Fürst blieb wie angewurzelt stehen, eine leichte Röte stieg ihm ins Gesicht. Er war splitterfaser nackt. Er drehte sich um, ein verlegenes Lächeln auf den Lippen. Er ging zurück zu seiner Frau, gab ihr einen sanften Kuss, schnappte sich sein hellblaues T-Shirt vom Stuhl und stürzte erneut zur Tür.
„Du musst es auch ANZIEHEN!“, rief Vienna ihm lachend hinterher, als sie sah, dass er es nur in der Hand hielt. Ein amüsiertes Kopfschütteln begleitete ihre Worte, während sie selbst aus dem Bett glitt.
Sie streifte sich ihren goldenen Bikini über, dessen schimmernder Stoff perfekt mit ihren langen, goldenen Locken harmonierte. Sie wusste, dass es eigentlich erst am späten Morgen so weit sein würde. Ein tiefes, instinktives Wissen, das allen Müttern innewohnt, sagte es ihr. Sie hatte also noch Zeit. In aller Ruhe begann sie, ihre Haare zu kämmen und dachte dabei, mit einem winzigen, liebevollen Anflug von Bedauern, dass ihre Tochter wohl die dunkelblauen Haare ihres Vaters erben würde. Aber das war nur ein flüchtiger Gedanke. Und woher sie wusste, dass es ein Mädchen werden würde? Nun, eine Mutter weiß auch das.

Doch die aufgeregten Rufe ihres Mannes von draußen und das Pochen ihres eigenen Herzens ließen ihre geplante Ruhe schnell dahinschmelzen. Auch sie konnte ihre Ungeduld nicht länger zügeln. Sie ließ die Bürste fallen und eilte, ihre durchsichtigen, libellengleichen Flügel leicht flatternd, ihrem Gemahl hinterher.
Vienna fand ihn auf der Rosenwiese, vor einer ganz besonderen Rose, ihrer Rose. Diese war größer als alle anderen, ihre Knospe von einem tiefen, satten Rot, und sie pulsierte in einem sanften Licht, das selbst die Morgensonne zu überstrahlen schien. Dies war die Blume, die sie gemeinsam vor Jahren auserwählt hatten. Nicht mit Wasser hatten sie sie genährt, sondern mit ihrer Liebe, ihren Hoffnungen und ihren Träumen. Und nun stand der Moment der Erfüllung kurz bevor.
Hand in Hand standen sie da, ihre Herzen schlugen im Gleichtakt mit dem Pulsieren der Rose. Und dann, viel früher als Vienna es erwartet hatte, begann es. Offenbar hatte ihre Tochter es eilig, die Welt zu erblicken.
Langsam, wie in Zeitlupe, begannen sich die samtenen Blütenblätter zu entfalten. Eines nach dem anderen bog es sich nach außen und gab den Blick auf das Innere frei. Das Licht wurde intensiver, warm und einladend. Und als die Rose vollständig erblüht war, lag in ihrer Mitte, gebettet auf weichen Staubblättern und getauft vom Morgentau, das niedlichste Geschöpf, das die Welt je gesehen hatte – zumindest nach der einstimmigen und sehr voreingenommenen Meinung der stolzen Eltern.

Ein kleiner Kopf mit wuscheligen dunkelblauen Haaren reckte sich empor. Strahlend blaue Augen, so klar wie der Sommerhimmel, blickten neugierig in die Welt. Das kleine Mädchen sah zuerst Vienna, und ein winziger Arm streckte sich ihr entgegen. Dann wanderte ihr Blick zu ihrem Vater, und der andere kleine Arm streckte sich ihm entgegen.
Vienna und der Fürst traten näher, ihre Augen füllten sich mit Tränen der Freude. Sie nahmen je eine der kleinen ausgestreckten Hände.
„Schön, dass du endlich da bist, Funny“, sagte Vienna mit leiser Stimme.
„Unser Schatz!“, fügte der Fürst hinzu, seine sonst so ruhige Fassade von purer Emotion durchbrochen.
Funny lachte, ein Geräusch wie das Läuten winziger Silberglöckchen. Sie zog an ihren Händen und schmiegte sich zuerst an die Wange ihrer Mutter und dann an die ihres Vaters. In diesem Moment war das Glück im Elfental vollkommen.
Ein anderer Weg
Die Jahre vergingen wie im Flug, getragen vom Wechsel der Jahreszeiten im Tal. Aus der kleinen, frisch geschlüpften Blumenelfe war ein junges Mädchen geworden. Sie besaß die anmutige Schönheit ihrer Mutter, den tiefen Gerechtigkeitssinn ihres Vaters und eine Klugheit, die beide Elternteile in Erstaunen versetzte.
Funny war ihr ganzer Stolz. Doch in einer Sache waren Vienna und ihr Gemahl nicht ganz zufrieden, auch wenn sie es nie laut ausgesprochen hätten: Funny zeigte nicht die geringste Neigung, das Erbe der Fürsten des Elfentals anzutreten. Blumen zu pflegen, die komplizierten Tänze des Wachstums aufzuführen oder den Pflanzen beim Gedeihen mit Gesang zu helfen – all das war nichts für sie.
Wenn sie nicht gerade mit dem Kopf in einem Buch steckte, das von fernen Ländern, von Helden, Strategie oder den Gesetzen der Magie handelte, war sie draußen zu finden. Sie tobte mit ihren Freunden, den Kindern der Tiermenschen, die am Rande des Tals lebten, durch die Wälder, ihre hellblauen Flügel ein flüchtiger Schimmer zwischen den Blättern. Sie war es, die ein Rehkitz mit gebrochenem Bein fand und eine Woche lang pflegte, bis es wieder laufen konnte. Sie war es, die den alten Dachs aus einer eingestürzten Höhle befreite, indem sie unermüdlich grub. Sie half den Nachbarn, wenn die Ernte der leuchtenden Mondbeeren zu schwierig einzubringen war, und organisierte die Helfer mit einer natürlichen Autorität.

Einmal stürzte ein junger Blumenelf bei einem ungestümen Flug von einer Klippe in eine enge kaum zugängliche Felsspalte und brach sich ein Bein. Während die anderen los flogen, um Seile und Hilfe zu holen, seilte sich Funny mit einer selbstgeknüpften Lianenschlinge zu ihm ab. Sie blieb die ganze Nacht bei ihm, sprach ihm Mut zu und nutzte ihre angeborene Magie, um eine schützende Wärmeaura um ihn zu legen und den Schmerz zu lindern. Ihre Magie war wie die aller Blumenelfen anders. Auch sie konnte keine Feuerbälle schleudern oder Blitze rufen. Aber sie konnte Wunden schließen, Schmerz stillen, Pflanzen zu schützenden Barrieren wachsen lassen und den Geist beruhigen. Sie war eine Meisterin der Verteidigung und der Förderung des Lebens, und sie lernte schon früh, diese passiven Kräfte auf aktive und clevere Weise zu nutzen.
Funny war bei allen beliebt – den Elfen, den Tiermenschen und selbst den wilden Tieren des Waldes. Wo immer Not am Mann oder an der Frau war, war Funny zur Stelle. Wenn zwei Eichhörnchensippen über die besten Nussbäume stritten, war es Funny, die mit unendlicher Geduld und fairer Logik einen Kompromiss aushandelte, mit dem alle leben konnten.
Ihre größte Prüfung und zugleich ihr entscheidendster Moment kam jedoch unerwartet.
Die Goblin-Invasion
Eines Abends, als die Dämmerung das Tal in violette Schatten tauchte, gellten Schreie durch die Luft. Eine marodierende Bande Goblins, vom Hunger aus ihren angestammten Gebieten vertrieben, war ins Elfental eingefallen. Goblins waren keine strategischen Meister, aber sie waren zahlreich, grob und gierig. Sie plünderten die Vorratskammern und trampelten die sorgsam gepflegten Gärten nieder.
Die Elfen waren friedliebend und im Kampf ungeübt. Panik drohte auszubrechen. Doch bevor die Verzweiflung die Oberhand gewinnen konnte, erhob Funny ihre Stimme.
„Hört auf!“, rief sie, und ihre Stimme, obwohl nicht laut, hatte eine Klarheit, die durch das Chaos drang. „Weglaufen wird nichts nützen! Wir müssen unser Zuhause verteidigen!“
„Aber wie?“, rief ein älterer Elf. „Wir haben keine Waffen!“
„Wir brauchen keine Waffen, um klug zu sein“, erwiderte Funny bestimmt. Sie blickte in die Runde, ihre blauen Augen funkelten entschlossen. „Folgt mir! Tut, was ich sage, und niemandem wird ein Leid geschehen.“
An diesem Tag wurde aus dem hilfsbereiten Mädchen eine Anführerin. Sie verabscheute Gewalt, also nutzte sie das, was sie am besten konnte: Verteidigung und List.
„Teilt euch auf!“, kommandierte sie. „Gruppe Eins, ihr lockt so viele Goblins wie möglich in die Schlucht der singenden Echos. Gruppe Zwei, ihr nehmt die Kletterpflanzen und die Schlingwurzeln. Legt einen Hinterhalt am anderen Ende der Schlucht.“
Sie selbst flog, ein blauer Blitz in der Dämmerung, direkt auf das Zentrum des Chaos zu. Dort, auf einem herumstehenden Karren, saß der Anführer der Goblins, ein besonders hässliches Exemplar und brüllte Befehle. Das Prinzip dem sie folgte, war einfach: Schnapp dir den Anführer, und die Armee fällt in sich zusammen.
„Herr Goblin-Anführer!“, rief Funny mit ihrer stets höflichen, aber unüberhörbar festen Stimme. Der Goblin drehte sich überrascht um.

„Was will das kleine Flatterding?“, grunzte er.
„Ich möchte mit Euch verhandeln“, sagte Funny und landete kurz hinter ihm. Sie ließ ihre Magie fließen. Um sie herum begannen Ranken aus dem Boden zu sprießen, die sich langsam, aber unaufhaltsam wie grüne Schlangen um den Karren wanden.
„Verhandeln? Goblins verhandeln nicht! Goblins nehmen!“, brüllte er und sprang vom Karren, den Knüppel erhoben.
Funny wich nicht zurück. Stattdessen breitete sie die Hände aus. Ein Schild aus schimmerndem, goldenem Licht materialisierte sich vor ihr. Der Knüppel des Goblins traf mit einem lauten BONK auf das Schild und wurde zurückgeschleudert, sodass der Goblin über seine eigenen Füße stolperte.
„Gewalt ist keine Lösung, mein Herr“, sagte Funny ruhig, während die Ranken nun seine Beine umschlangen und ihn zu Boden zogen. „Sie führt nur zu mehr Gewalt. Euer Volk hat Hunger, das verstehe ich. Aber das Plündern friedlicher Leute ist nicht der richtige Weg.“
In diesem Moment kamen Schreie aus der Schlucht. Die erste Gruppe hatte ihre Aufgabe erfüllt. Die Goblins, die ihnen gefolgt waren, fanden sich von einem Labyrinth aus dornigen Hecken eingeschlossen, die dort munter gediehen. Die zweite Gruppe hatte die restlichen Plünderer mit magisch verstärkten Schlingpflanzen gefesselt.
Der Goblin-Anführer zerrte an seinen Fesseln, aber die Pflanzen hielten ihn fest. Funny trat näher.
„Hört mir zu, mein Herr. Ich biete Euch einen Handel an. Ihr befehlt Euren Leuten, die Waffen niederzulegen. Im Gegenzug werden wir Euch mit Proviant für eine Woche versorgen und Euch einen sicheren Weg zu den unbesiedelten Jagdgründen im Norden zeigen. Lehnt Ihr ab, übergeben wir Euch den Wächtern der Krone.“
Der Anführer starrte sie an, erst wütend, dann ungläubig und schließlich mit einem Anflug von Respekt. Er hatte noch nie jemanden getroffen, der ihn besiegte, ohne ihm auch nur ein Haar zu krümmen, und ihm dann auch noch höflich Essen anbot. Er seufzte und nickte.
Als die Wächter Feenlands, die königliche Schutztruppe, alarmiert durch die magischen Signaturen, endlich eintrafen, fanden sie eine verblüffende Szene vor: Die Goblins saßen entwaffnet und friedlich in einem Kreis, während die Elfen ihnen Proviantbeutel packten. In der Mitte stand eine junge Blumenelfe im hellblauen Bikini und erklärte dem Goblin-Anführer auf einer Karte den Weg.
Der Anführer der Wächter, ein wettergegerbter Elf namens Kaelan mit einem ernsten Gesicht und wachsamen Augen, war sprachlos. Er nahm Funny beiseite.
„Junge Dame“, sagte er mit einer Stimme, die von vielen Schlachten rau war. „Was Ihr hier getan habt… das war nicht nur mutig, es war brillant. Eine Schlacht ohne einen einzigen Tropfen Blut zu gewinnen, das erfordert mehr als Stärke. Das erfordert Verstand und Charakter.“
Er musterte sie von Kopf bis Fuß.
„Habt Ihr jemals darüber nachgedacht, die Akademie der Krone zu besuchen? Euer Talent ist außergewöhnlich. Dort könnte man Euer Können auf ein völlig neues Level heben. Mit Eurer Fähigkeit könntet Ihr schnell zu den Wächtern aufsteigen.“
Funny, die von dem Lob ein wenig verlegen war, blickte zu Boden.
„Ich… danke, Herr Wächter. Ich werde darüber nachdenken.“
Aufbruch zu neuen Ufern
Die Nachricht von Funnys Heldentat verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Ihre Eltern waren unbeschreiblich stolz. Sie hatten sich längst damit abgefunden, dass das Schicksal ihrer Tochter nicht im friedlichen Tal lag, sondern draußen in der großen, weiten Welt. Dass nun sogar der Anführer der Wächter ihr Potenzial erkannte, war die endgültige Bestätigung.
Als Funny einige Wochen später ihren Entschluss verkündete, war es dennoch ein emotionaler Moment.
„Mutter, Herr Papa“, begann sie während des Abendessens. „Ich habe über die Worte des Wächters nachgedacht. Ich möchte zur Akademie gehen.“
Vienna legte ihr Besteck nieder. Ihre goldenen Augen wurden feucht. Sie war unendlich traurig bei dem Gedanken, ihre einzige Tochter gehen zu lassen, aber sie wusste, dass es der richtige Weg für Funny war.
„Wir wussten, dass dieser Tag kommen würde“, sagte sie leise und nahm Funnys Hand. „Dein Herz war schon immer zu groß für dieses Tal. Wir unterstützen dich, mein Schatz. Bedingungslos.“
Ihr Vater jedoch, der sonst so stille Fürst, strahlte über das ganze Gesicht. Er stand auf, ging zu Funny und legte ihr die Hände auf die Schultern. Ein seltener Anflug von Überschwang erfasste ihn.
„Die Akademie!“, sagte er und seine Stimme platzte fast vor Stolz. „Meine Tochter! Eine zukünftige Wächterin vielleicht sogar! Sie werden staunen, was eine Blumenelfe alles kann!“
Die Anmeldung wurde umgehend von ihren Eltern erledigt, die durch ihren Stand beste Kontakte zur Hauptstadt hatten. Der Abschied war tränenreich, aber voller Liebe und Hoffnung.
Funny flog los. Ihr Ziel: die Hauptstadt von Feenland, eine gigantische Metropole, die sich um den strahlend weißen Palast der Krone erstreckte. Schon von weitem sah sie das imposante Gebäude der Akademie – ein weitläufiger Komplex aus Granit und Marmor, mit hohen Türmen und riesigen Trainingsplätzen, direkt neben dem Palast gelegen.
Als sie landete, schloss sie sich einem nicht enden wollenden Strom junger Leute an – Menschen, Elfen, Zwerge, Tiermenschen – die alle auf das große Haupttor zuströmten. Sie waren die Erstklässler, die neuen Anwärter. Viele Blicke fielen auf Funny. Nicht nur wegen ihres charakteristischen hellblauen Bikinis, sondern vor allem, weil Blumenelfen in der Akademie eine absolute Seltenheit waren. Man hielt sie für zu sanft, zu friedliebend für das harte Leben eines Abenteurers. Funny bemerkte das Getuschel, aber sie lächelte nur freundlich und ging unbeirrt weiter.

Der erste Schock kam im Audimax, einem riesigen, halbrunden Saal, in dem sich alle Erstklässler versammelt hatten. Die Luft war erfüllt von aufgeregtem Geschnatter. Ganz vorne, auf einer erhöhten Bühne, hatten die Lehrer und Ausbilder Platz genommen, eine beeindruckende Ansammlung der fähigsten Kämpfer, Magier und Gelehrten des Landes. Und in ihrer Mitte, auf einem großen, kunstvoll verzierten Stuhl, saß der Direktor.
Es war ein Zwerg. Aber nicht irgendein Zwerg. Er war so breit wie hoch, mit einem Bart, der bis zu seinem Gürtel reichte. Seine Arme waren so dick wie Baumstämme und von Narben bedeckt. Neben seinem Stuhl lehnte eine riesige, zweischneidige Axt, deren Klinge im magischen Licht der Halle bedrohlich schimmerte. Er schaute so grimmig und unerbittlich in den Saal, dass alles Getuschel auf der Stelle verstummte.
Als Totenstille herrschte, erhob sich der Zwerg.
„Willkommen, willkommen zu einem neuen Jahr an der Akademie“, donnerte er, und seine Stimme war wie das Grollen von Felsen, die einen Berg hinabstürzen. Viele der Studenten zuckten zusammen und hielten sich unwillkürlich die Ohren zu.
Ein grimmiges Lächeln, das eher aussah, als wollte er gleich jedem Studenten persönlich den Kopf abreißen, huschte über sein Gesicht. Er musterte die Menge, sein Blick wanderte langsam von Reihe zu Reihe, und jeder einzelne Schüler fühlte sich, als würde er persönlich durchbohrt. Bei Funny verharrte sein Blick für einen Moment. Es war ein stechender, prüfender Blick, so intensiv, dass die Studenten neben Funny automatisch ein Stück von ihr wegrückten. Doch Funny wich seinem Blick nicht aus. Sie hielt ihm stand, ihre blauen Augen ruhig und klar, und nickte ihm nur höflich zu. Der Zwerg kniff die Augen zusammen, dann nickte er kaum merklich, aber anerkennend.
Sein Blick wanderte weiter. Noch zweimal noch blieb er an anderen Studenten hängen, einem schlaksigen Jungen mit einer runden Brille und einem Mädchen mit langen feuerroten Haaren, das in den Schatten der letzten Reihe kauerte. Zu diesem Zeitpunkt hatten aber fast alle anderen Studenten ihren Blick bereits eingeschüchtert gesenkt, und so bekam es kaum jemand mit.
Als seine Musterung beendet war, setzte sich der Zwerg wieder und hob zu seiner Rede an. Es waren klare, harte Worte, die keinen Zweifel an dem ließen, was vor ihnen lag.

„Ihr seid hier, weil ihr Abenteurer werden wollt!“, bellte er. „Ihr träumt von Ruhm, von Reichtum, von Ehre! Vergesst das! Was ein guter Abenteurer vor allem haben muss, ist der Wille zu überleben! Er braucht Mut, ja! Er braucht Ehre, ja! Aber vor allem braucht es den Willen zu überleben! Wer von euch glaubt, ein Krieger des Reiches werden zu wollen, kann nach einem Jahr und bestandener Prüfung zur Ritterakademie wechseln. Die bilden Kanonenfutter aus, um unser Land zu verteidigen. Wir bilden Überlebende aus!“
Er machte eine Pause und stemmte die Fäuste in die Hüften.
„Ihr alle beginnt heute mit dem F-Rang. Dem Rang der Anfänger, der Amateure, der Ahnungslosen! Wenn ihr diese Akademie nach drei Jahren erfolgreich abschließt, werdet ihr mindestens Rang C erreicht haben. Aber glaubt nicht, dass das leicht wird!“
Seine Stimme wurde zu einem Brüllen, das die Staubflocken von der Decke rieseln ließ.
„Wer die Jahresprüfung nicht besteht, fliegt raus! Euer Abschlussrang ist dann das, was ihr bis dahin erreicht habt. Die Anderen erreichen E+ nach dem ersten Jahr und D+ nach dem zweiten. Wer die Abschlussprüfung besteht, darf als C-Rang-Abenteurer zur Gilde gehen und die entsprechenden Aufträge annehmen. Gute Leistungen werden belohnt. Ein Abschluss mit einem höheren Rang ist durchaus möglich. Aber ich sage es euch noch einmal: Glaubt nicht, dass das leicht wird! Draußen, in der echten Welt, lauert auf jeden von euch der Tod hinter dem nächsten Baum, in der nächsten Höhle, im nächsten Auftrag! Eure Ausbildung hier soll euch darauf vorbereiten. Denn es gibt nichts Dümmeres, als für eine Sache zu sterben, wenn man für sie leben kann!“
Er griff nach seiner Axt und schlug den Schaft einmal krachend auf den Steinboden. Es hallte durch die Stille.
„Und nun geht! Verschwindet endlich! Eure Stundenpläne liegen in Euren Zimmern für Euch bereit. Lernt gut, kämpft hart und betet zu euren Göttern. Oder ihr werdet mich kennenlernen!“
In der nächsten Sekunde stoben die Studenten aus dem Audimax, als wäre der leibhaftige Teufel hinter ihnen her.
Ein neues, hartes Leben hatte begonnen.
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