Der Nachmittag war einer dieser seltenen Momente der absoluten Stille im kleinen WG-Häuschen von Adiuva et Protege. Draußen tanzten vereinzelte Schneeflocken, drinnen knackte das Holz im Kamin.
Funny saß auf dem Sofa, die dunkelblauen Haare glänzten im Feuerschein und sie hielt eine Tasse mit dampfendem Winterpunsch in beiden Händen. Darin saß im Sessel gegenüber, ein Buch über antike Runenmagie auf den Knien, seine Brille rutschte langsam die Nase hinunter. Es war perfekt. Friedlich. Harmonisch.

RUMMS.
Die Haustür flog auf, als hätte ein Rammbock dagegen geschlagen. Kälte und eine rote Haarwolke wirbelten herein.
„LEUTE!“
Lily stand im Flur, die Wangen gerötet, die grauen Augen weit aufgerissen, als hätte sie gerade einen dreiköpfigen Drachen gesehen, der Ballett tanzt.
„Mitten in Civitas Aurelia! Auf dem Marktplatz! Da ist ein… ein Weihnachtsmarkt! Das ist doch so ein Menschending, oder?“
Sie japste nach Luft.
Darin seufzte leise, schob seine Brille hoch und verfiel sofort in seinen Dozentenmodus. „Nun, historisch betrachtet feiern die Menschen am 24. Dezember die Geburt…“
„Ja, ja, ja!“ unterbrach ihn Lily und wedelte ungeduldig mit der Hand, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen. „Ich hab sowas noch nie gesehen! In Marinburg, wo ich den Hafen mit meiner Anwesenheit beglückt habe, gab es nur Fischmärkte und Möwen!“
Funny kicherte in ihre Tasse.
„’Beglückt‘ ist ein interessantes Wort, Lily. ‚Verunsichert‘ trifft es wohl eher, oder?“
Lily grinste schief.
„Vermutlich. Die Hafenmeister zucken immer noch zusammen, wenn sie rote Haare sehen. Aber egal! Es gibt dort Buden! Und Lichter! Und Dinge, die sich drehen! Lasst uns hingehen!“
Funny und Darin tauschten einen Blick. Der Kamin war warm. Der Punsch war heiß. Das Sofa war weich.
„Eigentlich…“, setzte Darin an.
Aber da passierte es. Lily setzte ihre Geheimwaffe ein. Sie zog die Unterlippe leicht vor, machte die Augen riesengroß und legte den Kopf schief. Der Klimper-Augen-Angriff. Kritischer Treffer. Gegen diesen Blick waren selbst Darins stärkste Schutzzauber machtlos.
Darin hustete, um seine Kapitulation zu überspielen.
„Ähm. Nun ja. Die Wächter haben dort auch einen kleinen Stützpunkt. Wir sind zwar nicht eingeteilt, aber Präsenz zeigen schadet nie. Aus rein… sicherheitstechnischen Gründen.“
„Du bist der Beste, weißt du das?“
Lily stürzte sich auf ihn und fiel ihm um den Hals, dass sein Sessel gefährlich wackelte. Darins Gesicht nahm fast die Farbe von Lilys Bikini an. Funny gluckste und stellte ihre Tasse ab. Sie wusste genau, dass Darin für Lily und sie bis ans Ende der Welt gehen würde – oder eben auf einen Weihnachtsmarkt.
„Na dann, lasst uns gleich aufbrechen…“, sagte Funny und stand elegant auf.
„…und Spaß haben!“ ergänzte Lily und wirbelte zur Tür hinaus.
Eine halbe Stunde später erreichten sie die massiven Tore der Hauptstadt. Als den Wächtern zugehörig erkannt, wurden sie von den Torwachen sofort durchgewunken, begleitet von respektvollem Nicken.
Der Marktplatz von Civitas Aurelia hatte sich verwandelt. Es war nicht einfach nur ein Markt; es war eine Explosion aus Licht, Magie und dem Duft von gebrannten Mandeln und Zimtsternen. Über den Ständen schwebten kleine Lichtkugeln, die Schnee rieseln ließen, der nicht kalt war. Karussells drehten sich, angetrieben von purer Mana-Energie.
„Wow“, hauchte Lily. „Na dann, rein ins Vergnügen!“
Sie wollten gerade den Weihnachtsmarkt betreten, als Funnys feines Gehör anschlug. Ein leises, herzzerreißendes Schluchzen.
Funny blieb abrupt stehen und Lily wäre fast in sie hineingelaufen. Am Rand einer Bude noch außerhalb des magischen Wunderlandes, versteckt hinter einem Stapel Kisten, hockte ein winziges Mädchen. Es war ein Katzenmenschen-Kind, vielleicht fünf Jahre alt, mit kleinen, zitternden Ohren und einem Schwanz, der sich ängstlich um ihre Beine wickelte.

Lily sah das Kind, und ihr Gesicht verzog sich sofort. Ihre Unterlippe begann zu beben. Bevor sie sich dazusetzen und aus Solidarität mitschluchzen konnte, war Funny schon in die Hocke gegangen.
„Hallo, Kleine. Was ist denn los?“
Funnys Stimme war wie warmer Honig. Sie sandte ganz gezielt sanfte Wellen ihrer Empathie aus. Das kleine Mädchen hörte auf zu weinen, schniefte laut und sah in Funnys himmelblaue Augen.
„Wir… wir haben einen Schulausflug gemacht“, stammelte sie. „Und… und ich habe einen Schmetterling aus Licht gesehen. Und dann war meine Klasse weg.“
Wieder füllten sich ihre großen Augen mit Tränen.
Funny sah zu Lily hinauf, die aussah, als würde sie gleich die ganze Welt verprügeln wollen, weil dieses Kind weinte. Strategiewechsel. Sofort. Zwei weinende Häufchen Elend waren eines zu viel.
„Darin“, sagte Funny ruhig, aber mit dem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. „Du gehst zum Wächter-Stützpunkt hier am Markt. Erkundige dich, ob eine Vermisstenanzeige vorliegt. Gib mir deinen Tracking-Kristall.“
Darin holte sofort aus der Itembox den bläulich schimmernden Stein.
„Ich nehme den hier“, erklärte Funny. „Und wir haben dann zu dritt…“ sie deutete auf Lily, das Mädchen und sich, „…Ablenk-Spaß. Wenn du etwas weißt, findest du uns mit dem Partner-Kristall.“
Darin lächelte. Er kannte Lilys Schwäche für Kinder.
„Einverstanden. Passt auf euch auf.“
Funny wandte sich wieder dem Mädchen zu.
„Wie heißt du denn? Ich bin Funny. Das Rotschopf-Chaos da ist Lily, und der Mann mit der Brille war Darin. Wir passen auf dich auf, bis Darin Hilfe organisiert hat. Okay?“
Sie heftete den Kristall sanft an den Kragen des Mädchens. Ein erstes, zaghaftes Lächeln huschte über das tränenverschmierte Gesicht.
„Ich heiße Cattie. Und ich bin schon fünf!“ Sie hielt stolz fünf Finger hoch.
„Fünf! Wow!“ Lily ging in die Hocke und grinste breit. „Na dann, Cattie, lass uns auf den Weihnachtsmarkt gehen und Spaß haben, bis Darin zurückkommt! Hast du schon mal Zuckerwatte gegessen, die einen fliegen lässt?“
Während Funny, Lily und Cattie im Trubel verschwanden, erreichte Darin den kleinen Wächter-Außenposten am Rande des Marktplatzes. Drinnen war es warm und roch nach starkem Kaffee. Zwei Wächter, ein Mensch und ein Zwerg, saßen dort und spielten Karten.
„Guten Abend“, grüßte Darin und schob die Brille zurecht. „Statusbericht: Vermisstes Kind?“
Die beiden schüttelten die Köpfe.
„Ruhiger Nachmittag, Darin“, brummte der Zwerg. „Nichts gemeldet.“
Darin nickte und legte den zweiten Kristall auf den Tisch.
„Gut. Falls jemand fragt: Wir haben sie.“
Da er nun warten musste, ließen sich Gespräche nicht vermeiden. Natürlich hatten die Wächter von der gestrigen Pressekonferenz gehört.
„Sag mal, Darin“, fragte der Mensch, „stimmt es, dass Lily den Oger-Vertreter fast gefressen hätte?“
Darin seufzte und ließ sich auf einen Stuhl sinken.
„Nicht ganz. Aber sie hat ihn verbal filetiert. Und was den Einsatz angeht…“
Und so musste er erzählen. Von den Orks, von Funnys Messertanz und Lilys Naginata-Ekstase. Die Zeit verging.
Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Die Lichter des Marktes strahlten nun umso heller. Plötzlich hämmerte es gegen die Tür. Eine Katzenmenschen-Frau stürzte herein, die Augen weit aufgerissen, Tränen in den Augen.
„Hilfe! Bitte! Ich… ich habe…“
Sie konnte kaum sprechen.
Darin stand sofort auf, ging ruhig auf sie zu und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter.
„Ganz ruhig. Suchen Sie ein Mädchen? Cattie?“
Die Frau erstarrte.
„Woher…? Ja! Oh bei den Göttern, ja! Ich weiß es doch selbst erst seit ein paar Minuten! Das Gewusel, die vielen Lichter, wir mussten so aufpassen… dass Cattie fehlt, ist erst beim Durchzählen am Ausgang aufgefallen!“
Sie schlug die Hände vor das Gesicht.
„Ich bin eine furchtbare Lehrerin!“
Darin lächelte sanft.
„Keine Sorge. Funny und Lily kümmern sich seit heute Nachmittag um sie. Ich glaube, Cattie hatte den besten Tag ihres Lebens.“
Er blickte auf den Kristall auf dem Tisch. Das Licht pulsierte schnell und hell, dass bedeutete, der Gegenkristall war ganz nah.
„Oh. Sie sind schon fast da. Ich vermute… Mission ‚Müde spielen‘ war erfolgreich.“

In diesem Moment öffnete sich die Tür. Funny trat herein, auf ihrem Arm ruhte ein kleines Bündel. Cattie schlief tief und fest, den Kopf an Funnys Schulter gelehnt. Lily folgte ihr, ihr Gesicht leuchtete vor Glück, und sie trug einen riesigen Plüschdrachen unter dem Arm, den sie offensichtlich gewonnen hatte.
„Pssst“, machte Lily und legte den Finger auf die Lippen. „Sie ist gerade erst eingeschlafen. Nachdem wir fünf Runden auf dem Pegasus-Karussell gedreht haben.“
Die Lehrerin schluchzte leise auf vor Erleichterung, hielt sich aber die Hand vor den Mund, um Cattie nicht zu wecken.
Lily sah das Bild vor sich: Funny mit dem schlafenden Kind auf dem Arm, Darin, der sie beide mit diesem weichen, beschützenden Blick ansah. Ein schelmisches Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
„Sagt mal…“, flüsterte sie laut genug, dass alle es hörten. „Wann gibt’s von euch beiden eigentlich endlich eines? Oder zwei? Ich meine, Übung hat zumindest Funny ja jetzt.“
Stille im Raum. Dann explodierte die Farbe in Funnys und Darins Gesichtern. Beide wurden so rot wie Lilys Haare. Die anwesenden Wächter prusteten los vor Lachen.
Funny übergab Cattie schnell, vielleicht etwas zu schnell, an die überglückliche Lehrerin. Die Frau drückte das Kind an sich und formte lautlos ein „Dankeschön“, während Tränen der Dankbarkeit über ihre Wangen liefen.
Als die Lehrerin gegangen war, räusperte sich Darin, immer noch mit glühenden Ohren.
„Ähm. Ja. Hunger?“
Lily grinste immer noch breit.
„Oh ja! Darin, Lydia hat einen Stand hier! Da waren wir noch nicht, weil wir Cattie nicht mit zu viel Essen vollstopfen wollten. Aber jetzt? Auf zu Lydia!“
Lydia! Der ehemalige Lehrling von Darins Mutter Rawenna. Lydia führte in Civitas Aurelia ihr eigenes Restaurant, ein kulinarisches Highlight.
Sie verabschiedeten sich von den amüsierten Wächtern. Am Stand von Lydia wurden sie stürmisch begrüßt. Das Katzenmädchen, das genauso gut kochen konnte wie sie energisch war (Rawenna hat ganz offensichtlich abgefärbt), schob andere Gäste beiseite.
„Platz da! Das ist Familie!“ rief sie und bugsierte die drei an einen freien Tisch.

Und so klang der 2. Dezember aus – mit Lydias legendärem Kochkünsten, viel Gelächter über Darins rotes Gesicht und dem Gefühl, dass Adiuva et Protege heute wieder genau das getan hatte, was ihr Name versprach: Helfen und Beschützen. Und alles mit ein bisschen Chaos abgeschmeckt.

































Schreiben Sie einen Kommentar