Die Finsternis war nicht schwarz. Sie war giftgrün. Ein dicker, modriger Nebel kroch die schmalen Serpentinen des östlichen Bezirks empor, wie die Finger einer unvorstellbaren Bestie, die nach dem Leben greift.
Hoch oben auf dem Kutschbock der königlichen Kutsche riss Vanessa die Zügel so fest an sich, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Die Walküre, Nummer zwei der Wächter, war eine Kriegerin, die normalerweise vor nichts zurückwich, doch heute zitterte ihr Herz gegen ihre Rippen wie ein gefangener Vogel. Hinter ihr, auf zwei kraftvollen Rössern, ritten ihre Gefährtinnen – zwei weitere Walküren, deren Gesichter unter den Helmen zu steinernen Masken erstarrt waren.
„Lumina!“, grollte eine Stimme.
Sie kam nicht von außen. Sie hallte im Inneren der Kutsche wider. Sie war hohl, trocken wie Grabbeigaben und voller Gier. Im Wagen presste die kleine Prinzessin Lumina ihre Hände so fest auf ihre Ohren, dass es schmerzte. Ihr Gesicht war pure Panik. Ein sanftes, goldenes Licht schimmerte um ihre Finger – ihre Heilmagie, die instinktiv versuchte, die Dunkelheit abzuwehren.

Polter. Krach.
Ein kurzes, entsetzliches Wiehern. Die beiden Begleitpferde waren gestürzt, als hätten ihnen unsichtbare Sensen die Beine weggemäht. Die Reiterinnen überschlugen sich, kamen jedoch mit der natürlichen Anmut von Walküren wieder auf die Beine. Sie standen direkt am Rand des gähnenden Abgrunds.
Vanessa riskierte einen Blick zurück. Was sie sah, ließ ihr Blut gefrieren. Ihre Schwestern im Geiste standen reglos da. Ihr Blick war nicht schmerzverzerrt. Er war… leer. Ein schwarzes Nichts, wo einst Entschlossenheit gebrannt hatte.
„Nein…“, flüsterte Vanessa.
Ohne einen Laut, ohne ein Zögern, taten beide Kriegerinnen gleichzeitig einen Schritt nach vorne. Sie stürzten schweigend in die Tiefe. Der grüne Nebel verschlang sie, noch bevor ein Schrei ihre Kehlen verlassen konnte.
„Vaaaaaaaanesssssssaaaaaaaaaaaa…“
Die hohle Stimme rief nun nach ihr. Sie war lockend. Sie versprach Ruhe. Sie versprach das Ende der Angst.
„NEIN!“, brüllte Vanessa gegen den Wahnsinn in ihrem Kopf an. Sie peitschte die Pferde der Kutsche mit verzweifelter Gewalt aus. Die Tiere schäumten, ihre Augen rollten weiß vor Entsetzen, ihre Muskeln zitterten kurz vor dem Reißen.
„Vaaaaaaaanesssssssaaaaaaaaaaaa… KOMM ZU MIR!“
Die Kutsche schlitterte gefährlich nah an den Abgrund. Ein Rad verlor bereits den Bodenkontakt, Steine polterten in die endlose Schwärze. Vanessa wusste, dass sie verloren war. Die Magie des Nebels hatte die Pferde bereits korrumpiert.
„LUMINA!“, schrie Vanessa, während sie verzweifelt mit den Zügeln kämpfte, gegen Pferde, die sich jedem Einfluss widersetzten. „SPRING! SPRING JETZT! RETTE DICH! ICH KANN DIE KUTSCHE NICHT MEHR HALTEN!“
Die Prinzessin sah durch das Fenster. Ihre Augen trafen die von Vanessa. Ein letzter Moment der Klarheit inmitten des Terrors. Lumina trat die Tür auf und sprang.
Vanessa sah, wie der kleine Körper in der Dunkelheit verschwand. Ein winziger Funken Hoffnung. Dann schaffte die Kutsche die nächste Kurve nicht mehr. Die Pferde liefen ins Leere, der Wagen kippte. Vanessa schloss die Augen, als die Gravitation ihren Tribut forderte.
„LUMINA!“
Mit einem gellenden Schrei fuhr Lily aus ihrem Bett. Ihr ganzer Körper war schweißnass, ihre Decke verheddert wie ein Leichentuch. Keuchend stürzte sie aus dem Zimmer, die Treppe hinunter, fast stolpernd über ihre eigenen Füße.
Darin stand in der Küche. Er wirkte unnatürlich ruhig, während er Kaffee aufsetzte. Er drehte sich nicht einmal um, als Lily in den Raum polterte.
„Erst anziehen“, sagte er mit einer Stimme, die so sachlich war, dass sie Lily wie eine kalte Dusche traf. „Dann gibt es Kaffee. Und dann müssen wir los. Die Zeit läuft uns davon.“
Lily blieb wie angewurzelt stehen. Sie sah an sich herunter. Jetzt verstand sie, warum Funny neulich bei Rawenna von einem „Notfall“ gesprochen hatte. Jetzt war es auch ihr passiert. Ohne ein Wort zu sagen, wirbelte Lily herum und stürzte zurück in ihr Zimmer.
Währenddessen stand Funny vor dem Terminal. Auf dem Bildschirm flimmerte das Gesicht von Nina, der obersten Beraterin der Krone. Nina war eine Legende – eine Elfenmagierin, deren Mana-Volumen so gewaltig war, dass sie bereits der dritten Generation von Kronprinzessinnen diente. In Feenland gab es keinen Erbadel; alle 50 Jahre wählte der Rat der Völker eine neue Spitze. Aurelia war die aktuelle Wahl, doch ihre kleine Schwester Lumina galt bereits als eine der stärksten Anwärterinnen für die Zukunft.
„Die Verbindung brach genau an den Koordinaten 44-Nord-Ost ab“, sagte Nina. Ihre Stimme war fest, doch in ihren Augen brannte eine tiefe Sorge. „Am Rande von Düsterwald.“
Funny schluckte schwer. Düsterwald. Der Ort, an dem Magie nicht nach den üblichen Regeln existierte. Ein Ort, der so schwarz wie nur irgendwas war. Durch die Fluktuation der Magie wurde auch die Realität stark verzerrt.
Als Lily wenig später am Tisch Platz nahm, waren Funny und Darin bereits in den „Kriegsmodus“ gewechselt. Die gemütliche Atmosphäre der Plätzchen und Adventsdeko wirkte plötzlich wie eine Farce.
„Vanessa und ihr Team sind verschwunden“, sagte Funny leise. „Zusammen mit Lumina.“
Lily erstarrte. Die Erinnerung an ihren Traum, den sie nicht mehr greifen konnte, bohrte sich wie eine Nadel in ihr Bewusstsein. Lumina… ihre „kleine Schwester“. Sie dachte an den Greifenflug, den verbotenen Spaß, die Loopings über der Hauptstadt. Alles fühlte sich jetzt so zerbrechlich an. War es wirklich ein Traum?

„Nina sagt, die dunkle Magie in Düsterwald fluktuiert so stark wie nie zuvor“, fuhr Funny fort und strich über ihre Notizen. „Der Gebirgspass ist vermutlich in ihrem Einflussbereich. Unsere Aufgabe ist es, den Verbleib von Vanessa und Lumina zu ermitteln.“ Sie hielt kurz inne, ihre Stimme zitterte minimal. „Und sie gegebenenfalls… zu bergen.“
Das Wort bergen hing wie ein schweres Urteil im Raum. Es bedeutete: Bringt sie heim. Egal, in welchem Zustand. Eine Träne rollte über Lilys Wange.
„Ich packe die Ausrüstung“, sagte Darin und stand auf. „In Düsterwald wird unsere Magie neutralisiert. Wir brauchen Runen-Artefakte, Tränke und autarke Energiequellen. Funny, ich nehme die schweren Siegel mit.“
Funny legte ihre Hand auf Lilys zitternde Finger.
„Wir werden sie finden, Li-chan. Ich verspreche es dir.“
Lily nickte gequält. Sie begann, Funny von ihrem Greifenflug zu erzählen – jedes Detail über Luminas damalige Panik, ihren Ruf nach Flucht. Alles konnte ein Hinweis sein.
Es war noch stockfinster draußen, als die drei Blumenelfen sich in die Lüfte schwangen. Die frostige Nachtluft schnitt in ihre Gesichter, während sie mit kraftvollen Flügelschlägen nach Osten hielten.
Es war bereits Vormittag, als der Düsterwald wie eine drohende, schwarze Mauer am Horizont emporragte. Er war kein Wald im herkömmlichen Sinne. Selbst ohne die Fähigkeit, Auren zu lesen, spürten die drei das schwere, träge Pulsieren einer Magie, die so alt und bösartig war, dass sie die Luft wie zähes Pech wirken ließ. Über dem, was wie Bäume aussah, waberte ein undurchdringlicher, schwarzer Nebel.
Darin starrte auf die „Bäume“ und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er hatte in verbotenen Folianten darüber gelesen: In der ewigen Finsternis des Düsterwaldes hatten diese Gewächse die Photosynthese längst aufgegeben. Sie verwerteten alles, was in ihre Nähe kam – Fleisch, Knochen, Magie. Es waren fleischfressende Monumente der Stille.
Funny deutete nach unten auf den Gebirgspfad, der sich wie eine graue Narbe auf halber Höhe der Schlucht entlangzog.
„Dort unten“, sagte sie gepresst. „Ich bleibe oben und beobachte die Fluktuationen der Magie. Darin, du untersuchst den Boden. Lily, du gibst ihm Rückendeckung. Weich nicht von seiner Seite.“
Sie landeten. Die Stille hier unten war absolut – kein Vogelgezwitscher, kein Windhauch, nur das Echo ihrer eigenen Schritte. Langsam schritten sie den Weg ab.
„Ich sehe etwas auf dem Weg liegen!“, rief Funny aus der Luft.
Darin und Lily eilten darauf zu. Es waren zwei Rösser. Tot. Ihre Körper waren unversehrt von äußeren Wunden, doch ihre Gesichter waren zu Fratzen des nackten Entsetzens erstarrt, als hätten sie im Moment ihres Todes in den Schlund der Hölle geblickt. Darin versuchte, seinen Scanner zu aktivieren, doch das Display flackerte nur wirr. Die atmosphärische Aufladung war zu stark, die Störungen des Magieflusses allgegenwärtig..
Lily trat an den Rand des Abgrunds, um in die Tiefe zu spähen. Ein tückisches Knirschen.
„LILY, NEIN!“
Darins Hand schoss vor wie ein Blitz und packte ihren Oberarm. Im selben Moment brach der Felsrand unter Lilys Füßen weg und stürzte lautlos in die Tiefe. Ohne Darins Reflexe wäre sie hinab gestürzt. Seine Flügel schlugen kraftvoll, um sie beide zu stabilisieren, während Funny herabstieß und Lily am anderen Arm packte.

Lily war so starr vor Schreck, dass sie ihre eigenen Flügel vergessen hatte. Sie zitterte am ganzen Leib, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten.
„Danke… euch beiden“, flüsterte sie heiser.
Sie blickten hinab. Darin musterte die Abbruchkante mit analytischem Blick.
„Das war kein Zufall. Der Stein wurde von innen heraus zersetzt. Wenn die anderen Walküren hier gestürzt sind, wird der Nebel sie längst…“
Er sprach den Satz nicht zu Ende.
„Wir müssen Nina informieren. Sie hat andere Mittel für eine Bergung aus dieser Tiefe. Aber jetzt: Wir folgen der Straße.“
Sie mussten nicht weit fliegen. An der nächsten Kurve war die Katastrophe unübersehbar. Die massive Felsbrüstung war durchbrochen.
„Hier ist die Kutsche abgestürzt“, sagte Darin und landete auf den Trümmern.
Langsam schwebten sie zum Grund der Schlucht hinab. Inmitten eines Feldes aus zersplittertem Holz und verbogenem Metall lag das Wrack. Die Pferde lagen leblos daneben. Und dann fanden sie Vanessa.
Ein schwerer Kloß bildete sich in Funnys Hals. Vanessa, die stolze Walküre, lag da, bleich und zerbrechlich. Ohne ein Wort zu sagen, holte Darin eine schwere Decke aus der Itembox und breitete sie über der Kriegerin aus, die für so viele das Ideal der Stärke verkörpert hatte. Funny platzierte vier Runensteine um sie herum und spannte ein Schutzfeld auf.
„Das wird die dunkle Korruption fernhalten, bis wir zurückkommen“, sagte sie mit belegter Stimme.
Lily hatte währenddessen das Wrack untersucht. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie kaum die Trümmer beiseite schieben konnte.
„Sie ist nicht hier!“, rief sie plötzlich und ein Funke Hoffnung blitzte in ihren Augen auf. „Die Kutsche war leer, als sie aufschlug! Lumina ist gesprungen!“
Darin holte seinen Bewegungssensor hervor. Nichts. Er kalibrierte den „Tricorder“ neu und hoffte, dass die Felswände die Störungen des Düsterwaldes abschirmten. Er schritt den Fuß der senkrechte Wand ab, dorthin, wo der Wald begann.
„Ich habe eine Signatur“, murmelte er. „Ganz schwach. Eine magische Spur, rein und golden.“ Er blickte zum Düsterwald. „Sie führt direkt hinein.“
Funny sah Lily an.
„Wir müssen ihr folgen. Wir können sie hier nicht allein lassen.“
Lily wollte bereits losstürmen, doch Darin hielt sie fest.
„Zusammenbleiben! Die Magie hier ist tückisch.“
Je näher sie dem Wald kamen, desto mehr spürten sie das magische Vakuum. Es begann schleichend. Zuerst fühlten sich ihre Flügel schwer an, dann reagierten sie nicht mehr auf Befehle. Die Flugmagie war einfach… weg. Am Rande des Waldes mussten sie zu Fuß weiter.
Die Dunkelheit hier unten war absolut. Ob es bereits Nacht war, ließ sich nicht sagen, da das grüne Leuchten des Nebels alles in ein gespenstisches Zwielicht tauchte.
„Wir halten hier“, entschied Funny. „Nachts in diesen Wald zu gehen, wäre Selbstmord.“
„Das ist es auch tagsüber“, murmelte Lily düster.
Darin kämpfte minutenlang mit der Itembox, die unter dem Einfluss des Vakuums nur widerwillig reagierte. Schließlich spie sie ihr Zelt aus. Sie errichteten ein Lager und installierten Neutralisationssteine an den Ecken, um den mentalen Druck des Waldes zu lindern.
Lily legte sich sofort hin, die Decke bis zum Kinn gezogen, den Blick starr auf die Zeltwand gerichtet. Funny schloss ebenfalls die Augen, doch ihr Schlaf war unruhig. Darin hielt die erste Wache. Er saß am Eingang und versuchte, die Itembox mittels Runen zu stabilisieren, um im Notfall schneller an ihre Waffen zu kommen. Seine Konzentration war am Ende. Die Stille des Waldes war wie ein Summen in seinen Ohren. Er nickte ein.
„DAAAAAAAAAAAARIN!“
Er schreckte hoch. Sein Herz raste. Hatte er geschlafen? Er sah auf die Uhr – nur wenige Minuten waren vergangen. Aber die Stille draußen war nun anders. Sie war lauernd.
„DAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAARIN! KOMM ZU MIR!“
Die Stimme war so klar, als stünde jemand direkt hinter ihm. Er sprang auf, riss den Reißverschluss des Zeltes auf und stürzte nach draußen.
Sein Atem stockte. Vor ihm, direkt am Rande des Waldes, standen Funny und Lily. Sie trugen keine Waffen. Sie rührten sich nicht. Ihre Gesichter waren im fahlen Licht des Nebels kreideweiß, ihre Augen weit aufgerissen, aber vollkommen leer. Sie starrten nicht auf ihn. Sie starrten in die Schwärze des Düsterwaldes.
„Funny? Lily?“, flüsterte er.
Keine Reaktion. Sie wirkten wie Statuen aus Eis.
„DAAAAARIN!“
Die Stimme war jetzt überall. Sie war süß wie Honig und kalt wie das Grab. Sie versprach ihm Antworten auf Fragen, die er noch nie zu stellen gewagt hatte. Mechanisch, wie eine Marionette, hob Darin den Fuß. Er machte einen Schritt auf den Wald zu. Dann noch einen. Sein Gesicht entspannte sich, der analytische Glanz in seinen Augen erlosch und machte einer unendlichen Leere Platz. Neben Funny und Lily blieb auch Darin stehen.

Fortsetzung folgt…
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