Spaß mit japanischen Zeichentrickfilmen

Darin

Das letzte Haus vor der Wildnis

Darin wuchs an der Nahtstelle zweier Welten auf. Sein Zuhause, ein umgebauter Hof, den Reisende ehrfürchtig „Janz weit draußen“ nannten, ist offiziell der letzte Außenposten des Dorfes Blumental. Inoffiziell ist es das letzte sichere Licht vor der endlosen, zügellosen Dunkelheit der Östlichen Ödnis.

Seine Mutter, Rawenna, ist das schlagende Herz dieses Ortes. Als eine ehemalige Abenteurerin, ungewöhnlich für eine friedliebende Blumenelfe und so selten wie ein bescheidener Zwerg –, ist sie eine Frau von atemberaubender Schönheit, eisernem Willen und taktischer Klugheit. Ihr silbernes Haar fällt in Locken über die Schultern ihres perfekt sitzenden, silbernen Bikinis, und ihre grauen Augen konnten die Seele eines Mannes mit einem einzigen Blick durchschauen. Sie wusste genau, was ein Abenteurer brauchte, bevor er in die Wildnis aufbrach: eine warme Mahlzeit, ein stabiles Seil, gutes Werkzeug, einen scharfen Verstand und einen guten Rat obendrauf. Ihre Herberge und ihr Laden boten alles und noch viel mehr davon.

Abenteurer respektierten den Hof als neutralen Boden. Und Rawennas Ruf tat sein Übriges. Einmal erwischte sie einen Dieb auf frischer Tat. Mit einem engelsüßen Lächeln fesselte sie ihn mit einem Seil, das sich bei jeder Bewegung enger zog, und hängte ihn kurzerhand an den höchsten Dachbalken der Herberge.

„Nur zur Abschreckung, meine Lieben“, erklärte sie den anderen Gästen zwinkernd. „Damit jeder weiß, dass Gastfreundschaft hier großgeschrieben wird, aber Dummheit Konsequenzen hat.“

Der Dieb wurde erst am nächsten Morgen heruntergelassen, als die Wächter eintrafen. Niemand stahl je wieder bei Rawenna oder versuchte es auch nur.

Darins Vater, Florent, ist das umherziehende Blut der Familie. Ein Handelsreisender mit unstillbarer Neugier, der das Land auf der Suche nach neuen, interessanten Produkten durchquert, bevorzugt aus der faszinierenden Welt der Menschen. Er ist nicht auf der Suche nach Reichtum, sondern nach Möglichkeiten. Er wusste, sein Sohn Darin konnte aus dem seltsamsten Schrott wahre Wunder erschaffen.

Und Darin? Er war die stille, brillante Synthese seiner Eltern. Er hatte die silbernen Haare seiner Mutter, aber kurz und verwuschelt wie die seines Vaters. Er hatte die braunen Augen seines Vaters, aber hinter einer runden Brille verbargen sie eine Konzentration und Intelligenz, die ganz ihm allein gehörten. Er war grenzenlos schüchtern, sprach nur, wenn es nötig war, und verbrachte seine Tage am liebsten in seiner Werkstatt, umgeben von Zahnrädern, Kristallen und dem Geruch von heißem Metall und Ozon.

Eines Abends kehrte Florent von einer langen Reise zurück. Er stellte einen schweren Sack auf den Tisch und grinste.

„Darin, mein Junge, schau mal, was ich hier habe.“

Darin, dessen blaues T-Shirt ihm mal wieder über die linke Schulter gerutscht war, versuchte neugierig einen Blick in den Sack zu erhaschen. Sein Vater zog einen kleinen, unscheinbaren Plastikkasten heraus. Darauf stand in seltsamen Buchstaben: „Bewegungsmatik“.

Rawenna kam aus der Küche, wischte sich die Hände an einer Schürze ab und beugte sich vor.

„Und was soll das sein, mein Lieber? Ein neuer Türstopper?“

„Keine Ahnung!“, lachte Florent. „Aber der Händler meinte, es sei ‚revolutionär‘. Ich dachte, Darin findet es vielleicht heraus.“

Darins Augen leuchteten hinter seiner Brille auf. Er nahm den Kasten ehrfürchtig in die Hände. Er war leicht, hohl, mit einer milchigen Linse auf der einen Seite. Tagelang tüftelte er. Er verband Silberdrähte mit magischen Kristallen, er sprach Fokuszauber darauf, zerlegte ihn beinahe und setzte ihn wieder zusammen.

„Wenn ich den Kristall hier als Fokus nehme… nein, das gibt eine Überladung. Aber vielleicht mit einem dämpfenden Kupferdraht statt Silber… und wenn ich den Lebenszauber umkehre, um nicht auf Leben, sondern auf die Veränderung von Lebenspositionen zu reagieren…“

„Ich hab’s!“, rief er eines Abends, sodass seine Mutter erschrocken eine Kelle fallen ließ. „Mutter, schau!“

Er hatte den Kasten mit der alten Hofglocke verbunden.

„Geh mal hinter die Scheune und komm dann wieder.“

Misstrauisch, aber neugierig tat Rawenna, wie ihr geheißen. In dem Moment, als sie um die Ecke bog, ertönte ein lautes, schrilles BIMM!.

Die ersten Wochen waren eine Plage. Die Glocke bimmelte für Fledermäuse, für umherfliegende Blätter, für Rawenna, die vergaß, dass sie die Wäsche aufhängen wollte. Aber Darin optimierte. Er fügte einen kleinen magischen Filter hinzu, der die Masse des sich bewegenden Objekts analysierte. Er justierte die Empfindlichkeit. Und eines Nachts funktionierte es perfekt.

Ein lautes, dringendes BIMM! BIMM! BIMM! riss die Familie aus dem Schlaf. Darin war als Erster am Fenster. Zwei große Wölfe schlichen sich an den Hühnerstall an. Ein gezielter Schuss mit seiner selbstgebauten Blitzschleuder jagte die verblüfften Raubtiere in die Flucht. Von da an war der „Bewegungsmatik“ der stille, unbestechliche Wächter des Hofes.


Die Nacht der Wildlinge

Es war eine dieser seltenen Nächte. Kein einziger Gast war in der Herberge, sein Vater war auf Reisen. Nur Darin und seine Mutter waren auf dem Hof. Die Stille der Ödnis war fast greifbar. Plötzlich schlug die Glocke an. Nicht nur einmal. Sie läutete ununterbrochen, ein panischer, metallischer Schrei in der Finsternis.

„Was ist los?“, rief Rawenna aus ihrem Zimmer.

„Ich weiß es nicht!“, rief Darin zurück, schon auf dem Weg zur Tür, das Herz hämmerte ihm gegen die Rippen. Er spähte vorsichtig durch einen Spalt. Und erstarrte.

Es war keine Fledermaus. Es waren keine Wölfe. Es war eine Armee. Eine endlose Kolonne von Wildlingen, muskulöse, krallenbewehrte Bestien, die normalerweise tief in der Ödnis hausten, zog am Horizont vorbei. Ihr Ziel war nicht der einsame Hof. Ihr Ziel war Blumental.

„Mutter!“, schrie er. „Wildlinge! Hunderte! Tausende! Sie ziehen auf das Dorf zu!“

Rawenna war sofort bei ihm. Ein Blick genügte. Ihre Miene, sonst so warm, wurde zu einer Maske aus Granit.

„Du fliegst sofort los und warnst das Dorf. Nimm den direkten Weg. Ich fliege zur Garnison in Silberfurt und hole die Wächter. Beeil dich, mein Sohn!“

„Aber du? Allein…?“

„Ich hab schon gekämpft, bevor du wusstest, wie man einen Schraubenzieher hält“, sagte sie, gab ihm einen schnellen Kuss auf die Stirn und drückte ihm einen kleinen Beutel mit seinen Erfindungen in die Hand.

„Flieg!“

Mit einem Schwirren ihrer Flügel war sie in der Dunkelheit verschwunden. Darin zögerte keine Sekunde länger. Er schoss in die Luft, seine eigenen Flügel schlugen so schnell, dass sie kaum zu sehen waren. Der Wind pfiff ihm um die Ohren. Unter ihm bewegte sich die dunkle Masse der Wildlinge wie ein träger, tödlicher Fluss.

Er erreichte die Tore von Blumental in Rekordzeit.

„Alarm!“, keuchte er den verschlafenen Torwächtern zu. „Wildlinge! Eine ganze Armee!“

Die Dorfalarmglocke läutete, ihr tiefer, dröhnender Ton riss die Bewohner aus dem Schlaf. Innerhalb von Minuten versammelten sich alle auf dem Dorfplatz, bewaffnet mit Heugabeln, Äxten und verängstigten Gesichtern.

„Was ist los, Darin?“, rief der Bürgermeister.

Darin antwortete nicht mit Worten. Er griff in den Beutel seiner Mutter, holte eine kleine Glaskugel heraus und warf sie hoch in die Luft.

„Lux!“, rief er.

Die Kugel explodierte in einem gleißenden, sonnenhellen Licht, das die Nacht vertrieb und die gesamte Ebene vor dem Dorf beleuchtete.

Ein kollektives Keuchen ging durch die Menge. Die Ebene wimmelte von Wildlingen. Es waren mehr, als sie sich je hätten vorstellen können. Die vordersten Reihen hatten das Dorf fast erreicht.

Panik drohte auszubrechen, doch Darin hob die Stimme.

„Keine Zeit für Angst! Helft mir! Die schnellsten Läufer, hierher!“

Er zog eine kleine Spule mit einem fast unsichtbaren Faden aus seiner Tasche.

„Elara, Finn! Ihr seid die schnellsten Läufer! Nehmt das und lauft um das ganze Dorf! Rollt den Faden auf dem Boden ab! JETZT!“

Ein junger Elf und ein Menschenmädchen schnappten sich die Spule und rannten los, was ihre Beine hergaben. Überall da, wo der magisch behandelte Faden den Boden berührte, schoss eine transparente, mehrere Meter hohe Wand aus reiner Energie empor. Sie war fest wie Diamant, aber durchsichtig.

„Jetzt!“, brüllte Darin. „Verteidigt die Mauern! Alles, was ihr habt!“

Steine, Pfeile und Speere prasselten auf die anstürmenden Wildlinge nieder, die gegen die unsichtbare Barriere prallten. Aber es waren zu viele. Ihre scharfen Krallen kratzten über die Wand und hinterließen Risse, die wie Spinnweben aussahen.

Darin stand auf der Torzinne und warf eine andere seiner Erfindungen: Blitzbälle. Sie explodierten mit einem blendenden Licht und einem ohrenbetäubenden Knall. Ein gezackter Blitz schlug vor den Füßen der vordersten Angreifer ein, schleuderte sie zurück und machte sie kampfunfähig. Er verlangsamte ihren Vormarsch, aber er konnte ihn nicht aufhalten.

„Die Mauer… sie hält nicht ewig!“, schrie einer der Verteidiger.

Darin wusste das. Aber sie mussten durchhalten. Bis zum Morgengrauen. Im Licht des Tages verloren die nachtaktiven Wildlinge oft ihren Kampfeswillen. Und vielleicht… vielleicht würde bis dahin Hilfe eintreffen.

Ein lautes Knirschen ertönte. Ein Teil der Mauer am Osttor zersplitterte. Wildlinge strömten hindurch. Gerade als die Verteidiger zurückwichen, gab es einen grellen Blitz über dem Dorf.

Mehrere Dutzend Gestalten stürmten mitten unter die Angreifer. An der Spitze, ihr silbernes Haar leuchtete wie ein Kriegsbanner, stand Rawenna.

„Für Blumental!“, donnerte Rawennas Stimme, eine Stimme, die Darin so noch nie gehört hatte, und sie stürzte sich in den Kampf.

Neben ihr der wettergegerbte Wächter Kaelan und seine Truppe. Und hinter ihnen eine bunte Schar von Abenteurern, die Rawenna mit einer Mischung aus Überredungskunst und alten Schuldscheinen aus der Taverne in Silberfurt rekrutiert hatte.

Die Ankunft der Profis veränderte alles. Die Wächter bewegten sich wie ein perfekt geölter Mechanismus, ihre Schläge waren präzise und tödlich. Der Kampf war kurz und brutal. Als das erste Grau des Morgens am Horizont erschien, war der Wille der Wildlinge gebrochen. Die Überlebenden wurden gefangen genommen und auf Karren verladen, um in ihre zugewiesenen Gebiete zurückgebracht zu werden.

Kaelan, der Anführer der Wächter, ließ sich vom Bürgermeister alles genau schildern. Er untersuchte die Reste der Energiemauer, hob einen nicht explodierten Blitzball auf und drehte ihn in seinen Händen. Dann wandte er sich an Darin, der schüchtern am Rand stand.

„Deine Mutter hat gesagt, du seist ein Erfinder“, sagte der alte Wächter, seine Stimme rau wie Schmirgelpapier. „Diese Mauern… welche Art von Energiematrix hast du verwendet, um sie so schnell und stabil zu errichten? Und diese Blitzkugeln… ist das eine kinetische Entladung oder rein thermisch?“

Darin war eingeschüchtert von der direkten, fachlichen Neugier des berühmten Wächters. Er schob nervös seine Brille zurecht.

„Ähm… es ist… eine kinetische Schockwelle, Sir, die durch einen instabilen Fokus-Kristall kanalisiert wird. Die Mauer basiert auf einem Faden aus gehärtetem Licht, der bei Bodenkontakt eine… eine feste Photon-Struktur bildet.“

Kaelan lachte leise, ein Geräusch wie das Mahlen von Steinen.

„Eine feste Photon-Struktur. Natürlich.“ Er legte Darin eine schwere Hand auf die Schulter. „Junge, du sprichst wie ein Magie-Professor, aber du kämpfst wie ein General. Du hast heute Nacht hunderte Leben gerettet. Du hast ein Talent, das an der Akademie der Krone geformt werden sollte, nicht hier draußen verkümmern.“

Darin stotterte ein leises „Ich werde darüber nachdenken“, während das ganze Dorf ihn umringte und als Held feierte. Es war ihm sichtlich unangenehm, so im Mittelpunkt zu stehen.

Später am Abend nahm ihn seine Mutter beiseite.

„Kaelan hat recht“, sagte sie leise. Ihre Augen waren voller Stolz, aber auch einer tiefen Wehmut. „Ich will meinen großen Jungen nicht gehen lassen, aber diese Welt braucht mehr Leute wie dich.“

Sie beugte sich vor und flüsterte verschwörerisch: „Ich habe es nie groß herum erzählt, aber ich war Rang A. Der höchste Rang, den man normalerweise als Abenteurer erreichen kann. Und ich wäre so unsagbar stolz, wenn du mich eines Tages überflügeln würdest.“

Sie wischte sich heimlich eine Träne aus dem Augenwinkel.

Darin dachte lange nach. Er liebte sein Zuhause, seine Werkstatt. Aber die Nacht hatte etwas in ihm geweckt. Die Erkenntnis, dass seine Erfindungen mehr sein konnten als nur Spielereien. Sie konnten Leben retten.

Sein Entschluss stand fest. Er wollte in die Hauptstadt, zur Akademie.

Der Abschied war schwer. Das ganze Dorf war gekommen, um sich zu verabschieden. Mehr als ein Mädchen wischte sich verstohlen eine Träne weg, als der schüchterne Erfinder mit seinem übergroßen T-Shirt und seiner Brille davonflog. Aber wie Jungs nun mal sind: Wenn sie ein neues, aufregendes technisches Projekt vor sich haben – wie die Akademie der Krone –, haben sie für so etwas selten ein Auge.


Darin und der Bär

Die Reise zur Hauptstadt war lang. Darin flog meistens, aber um Energie zu sparen, legte er auch weite Strecken zu Fuß durch die Wälder zurück. Eines Nachmittags hörte er Schreie. Panische, hohe Schreie eines Kindes. Er zögerte nicht, flog senkrecht in die Luft und flog in die Richtung des Lärms.

Auf einer kleinen Lichtung bot sich ihm ein schreckliches Bild. Ein riesiger Monsterbär, sein Fell verfilzt mit Dreck und Blut, stand über einem kleinen Katzenmenschen-Mädchen. Das Kind kauerte am Boden, die Arme schützend über dem Kopf, und blutete aus mehreren tiefen Kratzwunden. Der Bär holte mit seiner gewaltigen Pranke aus.

Darin reagierte instinktiv. Er warf eine seiner Blitzkugeln. Er hatte sie so modifiziert, dass sie keinen tödlichen Blitz mehr schleuderte, sondern einen präzisen Schockimpuls. Die Kugel explodierte direkt vor dem Gesicht des Bären. Ein gleißendes Licht blendete ihn, und der elektrische Impuls traf ihn mit voller Wucht auf seine empfindliche Nase. Der Schmerz und die plötzliche Blindheit waren zu viel für die Bestie. Mit einem Gebrüll aus Wut und Verwirrung drehte sie sich um und stürmte in den Wald.

Darin landete sanft neben dem Mädchen. Sie zitterte am ganzen Leib.

„Hey“, sagte er leise. „Alles gut. Er ist weg.“

Sie war schwer verletzt und verlor das Bewußtsein. Er kniete nieder und wirkte einen Stabilisierungszauber, den ihm seine Mutter beigebracht hatte. Die tiefsten Wunden schlossen sich ein wenig, die Blutung wurde gestillt. Mehr konnte er im Moment nicht tun. Vorsichtig hob er das bewusstlose Mädchen in seine Arme, um es in sein Dorf zurückzubringen. Er suchte nach ihren Spuren im Gras.

In diesem Moment zischte etwas an seinem Ohr vorbei. Ein Pfeil. Dann noch einer. Von allen Seiten schossen Pfeile auf ihn. Eine Gruppe von erwachsenen Katzenmenschen stürmte aus dem Wald, ihre Augen brannten vor Wut. Sie sahen nur einen Fremden, der ihr verletztes Kind entführen wollte.

„Halt!“, rief Darin, aber sie hörten nicht. Ein Pfeil bohrte sich schmerzhaft in seinen Oberarm. Er zischte auf und hätte das Mädchen beinahe fallen gelassen. Er wusste, dass er keine Chance hatte, ihnen die Situation zu erklären, solange sie angriffen.

Er tat das Einzige, was ihm logisch erschien: Er deeskalierte. Er legte einen schützenden Energieschirm um sich, legte das Mädchen sanft auf den Boden, setzte sich daneben und hob beide Hände in die Luft. Er wartete.

Diese unerwartete Passivität brachte die Angreifer zum Innehalten. Die Mutter des Mädchens, von Sorge überwältigt, stürzte vor. Darin ließ den Schild in ihre Richtung sofort fallen.

„Meine Tochter… lebt sie?“, schluchzte die Frau und fiel neben ihrem Kind auf die Knie.

Der Heiler des Stammes trat vorsichtig hinzu. Er untersuchte das Kind.

„Sie hat Bärenwunden“, murmelte er, seine erfahrenen Hände tasteten die Verletzungen ab. „Aber… die Blutung wurde gestillt. Professionell.“

Sein Blick wanderte zu dem verletzten Arm von Darin und den Pfeilen, die noch im Boden steckten.

„Dieser Fremde hat ihr das Leben gerettet… und wir haben ihn mit Pfeilen beschossen.“

Die Scham in den Gesichtern der Katzenmenschen war tief.

Darin wurde eingeladen, die Nacht im Dorf zu verbringen. Es gab ein spontanes Fest zu seinen Ehren. Das kleine Katzenmädchen, nun wieder wach und munter, wich ihm nicht mehr von der Seite und nannte ihn „meinen Helden“.

Darin lächelte das Mädchen an.

„Ich habe doch gar nicht so viel gemacht“, murmelte er immer wieder, während sogar die älteren Mädchen des Dorfes ihn anhimmelten.

Am nächsten Tag verabschiedete ihn das ganze Dorf. Das gerettete Katzenmädchen weinte bitterlich, als „ihr“ Held gehen musste.


Darin und die Sklavenhändler

Darin erreichte den großen Fluss, der sich wie eine Schlange durch das Land wand. Plötzlich hörte er lautes Geschrei und das Krachen von Holz. Zwei Wgen waren von der Uferstraße abgekommen und trieben im reißenden Strom. Ein Wagen war noch in Reichweite. Darin warf dem Wagenführer eine Liane zu, band das andere Ende an einem Baum fest und mit vereinten Kräften zogen er und einige andere Gestalten, die am Ufer standen, den Wagen ans Trockene.

„Der andere! Wir müssen auch den anderen retten!“, rief Darin und zeigte auf den zweiten Wagen, der bereits gefährlich nahe an die Stromschnellen herantrieb.

Der Anführer der Gruppe, ein Mann mit einem vernarbten Gesicht, winkte ab.

„Vergiss es. Da ist keiner von uns drin. Nur Ware. Macht keinen Sinn, dafür sein Leben zu riskieren.“

Ein leises, unterdrücktes Schluchzen wehte über den Fluss aus dem Inneren des zweiten Wagens. Darins Blick wurde hart.

„‚Ware weint nicht“, sagte er kalt. „Was ist in dem Wagen?“

„Das geht dich einen Dreck an, Elfenjunge“, zischte der Mann. „Misch dich nicht ein, sonst landest du selbst im Fluss!“

„Wenn dort Lebewesen drin sind, rette ich sie“, sagte Darin bestimmt.

„Das wirst du nicht tun, Bürschchen“, knurrte der Anführer und trat ihm in den Weg. Darin verschwendete keine Zeit mit Diskussionen. Mit einem kräftigen Flügelschlag stieg er in die Luft und flog über den Fluss.

Er warf einen kleinen, unscheinbaren Quader ins Wasser, direkt vor den treibenden Wagen. Beim Kontakt mit dem Wasser entfaltete sich der Quader augenblicklich zu einer massiven, stehenden Wand. Der Wagen krachte dagegen und blieb stehen. Die Wand würde dem Druck des Wassers nicht lange standhalten, aber sie erkaufte ihm Zeit.

Er befestigte mehrere dünne Schnüre am Wagen, sprach einen kurzen Zauberspruch, und sie wurden zu dicken, festen Tauen. Mit den Enden flog er zurück zum Ufer, ignorierte die wütenden Rufe der Männer, und verknotete sie an einem massiven Baum. Mit ein paar mitgebrachten Rollen und seiner technischen Begabung improvisierte er einen Flaschenzug. Langsam, Zentimeter um Zentimeter, zog er den schweren Wagen allein mit Hebelkraft aus dem Wasser.

Als der Wagen am Ufer war, öffnete er die Tür. Und erstarrte. Der Wagen war bis zum Bersten vollgestopft mit verängstigten Kindern.

Er zückte eine Signalpistole, die ihm sein Vater geschenkt hatte. Er schoss drei rote Leuchtkugeln in den Himmel, die er magisch so verstärkt hatte, dass sie weithin sichtbar waren. Ein klares Notsignal.

Inzwischen waren die Wilderer – Sklavenhändler, wie Darin sie nun für sich nannte – über den Fluss gekommen. Sie wollten ihre „Ware“ zurück und den einzigen Zeugen beseitigen. Darin wusste, dass er allein nicht lange standhalten konnte. Aber die Katzenmenschen hatten ihm aus Dankbarkeit einen ihrer besten Bögen geschenkt. Unterwegs hatte Darin ihn modifiziert. Er hatte einen automatischen Nachlademechanismus eingebaut, der aus Magie einen neuen Pfeil formte und einlegte, sobald er die Sehne spannte.

Mit diesem unendlichen Pfeilvorrat und seinem persönlichen Schutzschild hielt er die Sklavenhändler auf Abstand, wich ihren Angriffen aus und zwang sie immer wieder in Deckung. Es war ein zermürbender Kampf, bis endlich eine Bürgerwehr aus der nahen Stadt eintraf, die den Sklavenjägern schon länger auf der Spur war.

Die Sklavenhändler wurden festgenommen. Für die geretteten Kinder war Darin ein Held. Ihr Einzug in die nahe Stadt war ein Triumphzug. Darin nahm die Belohnung für die Ergreifung der Händler an – er konnte das Geld gut gebrauchen. Aber die Belohnung für die Rettung der Kinder lehnte er höflich ab.

„Bitte gebt es dem Waisenhaus“, sagte er nur. „Sie werden es nötiger haben.“


Darin und das verlorene Irrlicht

Die letzte Etappe seiner Reise führte ihn durch die Randgebiete der Sümpfe. In einer dunklen Nacht sah er in der Ferne ein flackerndes, unruhiges Licht. Es war zu klein für ein Lagerfeuer. Anhand der Sterne seine Position feststellend, machte er sich auf den Weg dorthin.

Er fand ein Irrlicht. Es hatte die Gestalt eines kleinen, durchscheinenden Mädchens aus purem Licht, das hemmungslos schluchzte und dabei flackerte.

„Was ist denn los?“, fragte Darin sanft.

„Ich… ich finde nicht mehr nach Hause“, wimmerte es. „Ich hab mit meinem Ball gespielt… und der Sumpf ist weg…“

„Der Sumpf ist nicht weg“, sagte Darin sanft und kniete sich nieder, um auf Augenhöhe zu sein. „Du bist nur ein bisschen weit gelaufen. Siehst du den hellen Stern da oben? Das ist der Nordstern. Deine Heimat ist genau in diese Richtung. Komm, ich zeig dir den Weg.“

Er führte das kleine verirrte Irrlicht durch die Nacht. Als sie die Sümpfe erreichten, kamen ihnen sofort zwei größere, hellere Lichter entgegen – die Eltern. Sie waren außer sich vor Freude und Dankbarkeit.

„Du hast unser Kind zurückgebracht, Fremder“, summte die Stimme des Irrlicht-Vaters. „Nimm dies als Zeichen unserer Dankbarkeit.“

Er überreichte Darin eine kleine, versiegelte Phiole, in der ein winziger, ewig leuchtender Funke tanzte. „Wenn du jemals ein Licht brauchst, wo es kein Licht geben sollte, öffne das Siegel.“

Darin war begeistert. Ein ewiges, kaltes Licht! Die Anwendungsmöglichkeiten waren endlos! Er bedankte sich überschwänglich und machte sich auf die letzte Etappe zur Hauptstadt.


Die Akademie

Die Hauptstadt war… überwältigend. Türme, die in den Himmel ragten, Lärm, Gerüche, Menschenmassen. Darin fühlte sich klein und verloren. Am ersten Tag des Ausbildungsjahres ließ er sich einfach vom Strom der anderen Studenten mitziehen, der unaufhaltsam auf das gewaltige Gebäude der Akademie zufloss.

Er fand sich im Audimax wieder, einem Saal, der größer war als der gesamte Marktplatz von Blumental. Die Luft war erfüllt von aufgeregtem Gemurmel. Darin setzte sich in eine der hinteren Reihen und versuchte, unauffällig zu sein. Dann betrat der Direktor die Bühne, und die Halle wurde still.

„…Rang F! Der Rang der Ahnungslosen, der Amateure!“, donnerte die Stimme des Zwerges.

„Okay“, dachte Darin und schob seine Brille zurecht. „Alle fangen bei Null an. Das ist fair. Ein logischer Ausgangspunkt.“

Sein Blick wanderte über die Gesichter, und dann sah er sie. Funny, wie er erst später erfahren sollte. Er vergaß zu atmen.

„Oh. Bei allen Sternen. Wer ist das? Sie… sie leuchtet.“, dachte er, sein analytischer Verstand wich für einen Moment reiner, unlogischer Faszination.

Er sah, wie sie dem starren Blick des Direktors standhielt, sah ihr mutiges, höfliches Nicken. Ihr Mut war wie ein Funke, der auf ihn übersprang. Ihr Mut war ansteckend. Das kann ich auch, dachte Darin und straffte die Schultern.

Und tatsächlich, der durchdringende Blick des Zwerges traf ihn. Darin schluckte, aber er wich nicht aus. Er hielt dem Blick stand, so wie sie es getan hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, ein Lächeln auf dem grimmigen Gesicht des Zwerges zu sehen, bevor der Blick weiterwanderte. Darin bemerkte, dass inzwischen fast alle anderen Studenten zu Boden schauten. So war er einer der wenigen, der mitbekam, wie der Blick des Direktors auch bei einer rothaarigen Blumenelfe kurz ruhen blieb.

Dann war die Rede vorbei, und der Direktor scheuchte sie wie eine Herde Schafe aus dem Saal.

Auf seinem Zimmer fand er den Stundenplan.

  • Staatsrecht
  • Suchen und Finden
  • Identifizieren
  • Wirtschaft
  • Materialkunde
  • Verteidigung (ohne Waffen und Magie)
  • Nahkampftraining (mit Waffen)

Darin stöhnte leise auf. Als Blumenelf war kämpfen nicht seine Stärke. Und Magiekunde und Runenzauber, die Fächer, auf die er sich am meisten gefreut hatte, gab es erst ab dem zweiten und dritten Jahr.

Naja, dachte er. Dann habe ich Zeit, körperlich fitter zu werden. Meine Zielsicherheit bei den Sklavenhändlern ließ wirklich zu wünschen übrig.

Am Abend ging er in die riesige Mensa. Er setzte sich an einen Randtisch, um den Überblick zu behalten. Und da saß sie wieder, sein Lichtstrahl in der Dunkelheit, ganz in der Mitte. Allein an einem Tisch. Er schob sein Essen auf dem Teller hin und her. Er würde sich niemals trauen, sie anzusprechen.

Plötzlich hörte er Fetzen eines Gesprächs vom Nachbartisch.

„Hast du von dieser Lily gehört? Die Rothaarige?“

„Ja, die hat sich schon am ersten Tag mit Ausbilder Grom angelegt. Muss jetzt die ganze Arena fegen, weil sie ihn angerempelt und gefragt hat, ob er blind sei. Völlig irre.“

Der nächste Morgen begann mit dem Training bei ebenjenem Ausbilder Grom, einem Mann, der aussah, als könnte er Felsen spalten und eine Stimme hatte, die dazu passte.

„SCHNELLER, IHR LARVEN!“, brüllte er, während sie Runden um die Arena liefen. „MEINE GROSSMUTTER KRIECHT SCHNELLER ALS IHR LAUFT! AUF DEN BODEN! ZWANZIG LIEGESTÜTZE!“

Darin keuchte, seine Arme zitterten unkontrolliert. Er spürte jeden Muskel, von dem er nicht gewusst hatte, dass er ihn besaß. Sein Blick wanderte zu Funny. Sie machte die Liegestütze in einem sauberen, gleichmäßigen Rhythmus.

„Sie… sie sieht nicht einmal müde aus. Wie macht sie das nur?“, dachte er bewundernd.

Plötzlich hörte er eine aufsässige Stimme, die durch das Keuchen der anderen schnitt.

„Das ist doch totaler Blödsinn! Nennen Sie mir einen guten Grund, wann ein Abenteurer auf einem Schlachtfeld mal zwanzig Liegestütze machen muss!“

Es war Lily, die Rothaarige, die Grom mit verschränkten Armen anstarrte.

Ausbilder Groms Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, das keine Freude verriet.

„Eine ausgezeichnete Frage, Rekrutin! Um sie Ihnen zu beantworten, machen Sie alle restlichen Übungen mit diesen hier.“

Er warf ihr ein Paar schwere Gewichte für Arme und Beine zu.

„Damit Sie die Muskeln auch wirklich spüren und sich an die Antwort erinnern! Und jetzt weiter im Takt!“

Lilys Gesichtsausdruck war eine Mischung aus ungläubigem Zorn und widerwilliger Anerkennung für die schnelle Reaktion.

„Beinahe tut sie mir leid“, dachte Darin, bevor er selbst mit einem Stöhnen auf den Boden sank.

Die Akademie war härter, als er gedacht hatte. Aber jedes Mal, wenn er Funnys blauen Bikini in der Menge sah, wusste er, dass er es schaffen würde. Für sie würde er der Stärkste werden, der er sein konnte.

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