Fortsetzung von „Die erste Reise„
Abschied und eine unerwartete Flut
Der Morgen nach dem Wolfsangriff war von einer bittersüßen Melancholie geprägt. Die Sonne tauchte die Szenerie in ein weiches, goldenes Licht, das die brutalen Überreste des nächtlichen Kampfes fast schon malerisch erscheinen ließ. Gemeinsam halfen die drei Freunde der Katzenmenschenfamilie, ihren Wagen durch eine seichte, aber schnell fließende Furt auf die andere Seite des Flusses zu manövrieren.
Als der Wagen sicher am anderen Ufer stand, war der Moment des Abschieds gekommen. Die beiden Katzenkinder klammerten sich an Funny.
„Müsst ihr wirklich schon gehen?“, fragte das kleine Mädchen, ihre großen, grünen Augen waren voller Tränen. „Ihr könntet doch mit uns in die Stadt kommen! Dort gibt es den besten Honigkuchen!“
Funny kniete sich zu ihr nieder, ihr Lächeln war warm und tröstend. „Das ist sehr lieb von dir, aber unser Weg führt uns in eine andere Richtung. Aber denk daran, was wir dir gesagt haben: Ein Abenteurer ist immer da, wo er gebraucht wird. Und vielleicht sehen wir uns ja eines Tages wieder, wenn du selbst eine große und starke Abenteurerin bist.“
„Wir werden die Besten!“, rief der Junge entschlossen. „So wie ihr!“

Nach vielen weiteren Umarmungen und Danksagungen, die Darin mit einem knallroten Kopf über sich ergehen ließ, war es Zeit. Mit einem kräftigen Flügelschlag stiegen sie in die Luft und zogen in beinahe die entgegengesetzte Richtung davon, dem Herzen des Landes entgegen.
Wieder wurde es später Abend. Die Landschaft unter ihnen wurde rauer, hügeliger, und sie beschlossen, ihr Lager am Ufer eines kleinen, plätschernden Baches aufzuschlagen, der sich durch ein enges Tal schlängelte. Getreu dem „Handbuch für angehende Abenteurer“, das Funny auswendig zu kennen schien, erstellten sie einen Wachplan.
„Ich übernehme die erste Wache“, sagte Darin. „Dann Funny, und Lily macht die letzte vor Sonnenaufgang.“
„Auf keinen Fall“, protestierte Lily sofort und gähnte herzhaft. „Gebt mir die mittlere oder noch besser, die erste Wache. Wenn ich die letzte habe, schlafe ich im Stehen wieder ein. Ihr wisst, dass ich morgens zu nichts zu gebrauchen bin.“
Funny lachte.
„In Ordnung. Dann beginnt Lily bis Mitternacht, Ich folge um MItternacht und Darin übernimmt die Morgenwache.“
Die Nacht war sternenklar und ruhig. Bis kurz nach Mitternacht. Funny hatte gerade die Wache von Lily übernommen und lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Zuerst war es nur ein Gefühl, eine kaum wahrnehmbare Vibration im Boden unter ihren Füßen, als würde das Herz der Erde unregelmäßig schlagen.
Seltsam, dachte sie. Ein Erdbeben?
Doch das Vibrieren wurde stärker, lauter. Aus der Ferne, aus dem Nordwesten, hörte sie ein dumpfes Krachen, als würden Bäume wie Streichhölzer zerbrechen. Es kam näher. Schnell.

„Aufwachen!“, zischte sie und rüttelte ihre schlafenden Gefährten. „Darin! Lily! Sofort aufstehen!“
„Was ist los?“, murmelte Lily verschlafen. „Ist es schon Morgen? Wehe, es ist Morgen…“
„Wir müssen hier weg!“, drängte Funny, ihre Stimme war angespannt. „Auch wenn es nachts gefährlich ist, wir müssen in die Luft! Unten naht eine Stampede!“
Kaum waren Darin und insbesondere Lily wirklich munter, packte Funny beide am Arm und riss sie mit sich in die Lüfte. Im selben Moment donnerten die ersten Hufe durch ihr Lager. Eine riesige Herde aus Hirschen, Wildschweinen und seltsamerweise auch einigen Bären und Luchsen stürmte über den Bach und trampelte die Stelle nieder, an der sie gerade noch gelegen hatten.
Spätestens jetzt war auch Lily hellwach.
„Bei den rostigen Stiefeln eines Ogers! Was war das denn?“
Darin, dessen Verstand selbst im Halbschlaf sofort auf Analyse schaltete, schwebte etwas höher.
„Seht euch das an! Es ist eine absolut gemischte Stampede. Pflanzenfresser, Fleischfresser, alles stürmt völlig unkoordiniert von Nordwest nach Südosten. Das ist unnatürlich. Sie fliehen vor etwas.“
Er wandte sich an Funny.
„Funny, du kennst die Karten besser als wir. Was liegt im Nordwesten?“
Funny überlegte, während sie geschickt den aufgewirbelten Staubwolken auswich.
„Eigentlich nicht viel. Nur schwer bis gar nicht passierbare Gebirgspfade. Es geht von hier aus steil in die Berge.“
„Also stammen die Tiere aus dem Gebirge?“, fragte Lily. „Das macht keinen Sinn. Hirsche und Wildschweine leben nicht auf Felsklippen.“
„Genau das ist es“, sagte Darin nachdenklich. „Etwas hat sie aus ihren angestammten Revieren in den Ebenen und Wäldern in die Berge getrieben, und etwas anderes jagt sie jetzt von dort wieder herunter.“
„Was machen wir?“, fragte Lily und schlug unruhig mit den Flügeln. „Wir können nicht stundenlang hier oben schweben. Irgendwann sind unsere Magiereserven aufgebraucht. Und völlig magielos möchte ich der Ursache dieser Stampede nicht auf den Grund gehen.“
„Lasst uns eine halbe Stunde hier in der Luft verharren“, entschied Funny. „Ich stimme dir zu, Lily, bis zur Erschöpfung zu fliegen, ist zu riskant. Die Anzahl der flüchtenden Tiere hat schon deutlich abgenommen. Aber nachts einfach weiterzufliegen, ist auch keine gute Idee.“
„Ich habe am Nachmittag, als wir ankamen, hier rechts eine kleine Lichtung auf einem Felsvorsprung gesehen“, sagte Darin. „Dort sind kaum Tiere vorbeigekommen. Lasst uns dorthin fliegen. Lily, du errichtest schnell eine deiner Dornenhecken als Abschirmung, dann sollten wir vor eventuellen Nachzüglern geschützt sein.“
So machten sie es. Die Lichtung war nur deshalb nicht ihre erste Wahl gewesen, weil sie keinen Zugang zum Wasser hatte, aber für den Rest der Nacht würde es genügen. Lily, immer noch mürrisch, aber trotzdem sehr effizient, ließ eine ausreichend hohe, undurchdringliche Dornenhecke um ihren neuen Lagerplatz wachsen.
„So“, sagte sie und wischte sich imaginären Staub von den Händen. „Kommt hier was durch, hat es sich eine Pause verdient.“

Sie wandte sich an Funny.
„Komm, ich löse dich ab. Wäre eh nur noch eine halbe Stunde gewesen. Und dann kann Darin mich kurz vor Sonnenaufgang ablösen. Ihr wisst ja, dass ich morgens nicht besonders vor Elan strotze.“
Darin und Funny lächelten. Ja, Lily war ein notorischer Morgenmuffel. Man gab ihr besser keine Wache, die in den Sonnenaufgang hineinreichte. Sie legten sich hin, und Lily übernahm die Wache, ihre Naginata griffbereit. Doch bis zum Morgen blieb alles ruhig.
Spuren des Grauens
Nachdem die Sonne strahlend hell aufgegangen war, beschlossen die drei, vorsichtig der Spur der Verwüstung zurück zum Ausgangspunkt der Stampede zu folgen.
„Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht“, sagte Funny, während sie über die niedergetrampelten Wälder flogen. „Tiere fliehen nicht ohne Grund in Panik.“
Der Weg führte sie weit in die Berge hinauf. In einem abgelegenen Talkessel, umgeben von schroffen, grauen Felswänden, fanden sie den Ursprung. Der Boden war von unzähligen Huf- und Klauenabdrücken zerfurcht. Dazwischen erkannten sie aber auch andere, merkwürdige Spuren. Sehr große Spuren, die durch die panische Flucht der Tiere aber so verwischt waren, dass sie sich keinen Reim darauf machen konnten.
Und dann sahen sie es. Riesige, dunkelrote Lachen auf dem von Gras bedeckten Boden. Als sie näherkamen und landeten, stockte ihnen der Atem. Die Lachen sahen aus wie gigantische, mit geronnenem Blut gefüllte Faustabdrücke. Jeder Abdruck war mehrere Meter im Durchmesser. Da es ein warmer Tag war, war das Blut bereits zu einer klebrigen, schwarzen Kruste geronnen, über der ein dichter Schwarm von Insekten summte. Der Geruch von Tod und Verwesung lag schwer in der Luft.

„Irks, mir wird schlecht“, sagte Lily und hielt sich die Hand vor den Mund. „Wer oder was macht so etwas?“
Funny, die eine angeborene Verbindung zum Leben hatte, schauderte. Sie kniete nieder, berührte aber nicht das geronnene Blut.
„Ich glaube… ich glaube, das waren Bergziegen, die hier oben geweidet haben. Und irgendetwas hat sie… mit brachialer Gewalt einfach zermatscht. Was auch immer das war, ich kann die Panik verstehen.“
Ihre Stimme war nur ein Flüstern des Entsetzens.
„Lasst uns zu Fuß weitergehen“, schlug Darin vor, seine Augen analysierten die Umgebung. „Wir können aus der Luft zwar weiter sehen, aber wir werden auch früher gesehen. Ich möchte nicht überrascht werden.“
Funny stimmte zu.
„Du hast recht. Es wird zwar anstrengend, aber für irgendetwas muss das Training bei Grom ja gut gewesen sein.“
Sie folgten den Spuren der „Faustabdrücke“. Nach einer Weile wurden sie weniger. Stattdessen sahen sie nur hier und da noch vereinzelte, große Blutstropfen auf den Felsen, als wären die Kadaver der Ziegen weggetragen worden. Der Weg führte sie stundenlang immer tiefer und höher ins Gebirge hinein, durch enge Pässe und über gefährliche Geröllfelder.
Als die Dämmerung hereinbrach, suchten sie einen Platz zum Übernachten. Darin erhob sich kurz in die Luft und entdeckte eine kleine, unscheinbare Höhle hinter einem Felsplateau, gut versteckt und mit nur einem engen Zugang. Sie war unbewohnt und trocken. Auf dem felsigen Untergrund war es zwar reichlich unbequem, aber sie waren geschützt.
„Kein Feuer heute Nacht“, entschied Funny. „Wir wissen nicht, was hier draußen ist. Wir bleiben im Inneren der Höhle.“
Es war Mitternacht. Darin hatte gerade seine Nachtwache angetreten und saß am Höhleneingang, als er es hörte. Ein lautes, schrilles Pfeifen, das von den Felswänden widerhallte, kam vom Anfang des Tals. Gleichzeitig gewahrte er in der Ferne am anderen Ende des Tals mehrere flackernde Lichter.
Er kroch sofort zurück.
„Funny, Lily, schnell aufwachen!“
Lily, die gerade eingeschlafen war, wollte schon herummosern, als erneut ein Pfiff ertönte, dieses Mal viel näher. Vom anderen Ende des Tales, in der Richtung, in die sie unterwegs waren, wurde mit lautem, markerschütterndem Gejohle geantwortet.
„Duckt euch!“, flüsterte Darin eindringlich. „Hinter die Vorsprünge! Wir sollten weder gesehen noch gehört werden. Und wenn das da unten feine Nasen hat, wollen wir auch nicht gewittert werden.“
Sie kauerten sich in die dunkelsten Ecken der Höhle, ihre Herzen hämmerten. Erneut erklang ein Pfiff, zum Glück wieder weiter weg. Aber das folgende laute Gejohle war mehr als nur beängstigend; es war furchterregend, unmenschlich und voller bösartiger Freude.
Zwei Stunden vor Sonnenaufgang kehrte eine plötzliche, unheimliche Stille ein. Auch die von Darin entdeckten Lichter erloschen. An Schlaf war jedoch nicht mehr zu denken. Zu sehr waren ihre Nerven gespannt.
Als die ersten roten Strahlen der Sonne das Gebirge in blutige Farben tauchten, wagten sie einen Blick nach draußen. Unter ihnen lag der Talkessel. Von links waren sie gekommen. Rechts, am anderen Ende des Tals, wo Darin die Lichter gesehen hatte, war… nichts. Nur ein riesiger Haufen Felsblöcke, der aussah wie eine natürliche Geröllhalde. Mit sehr viel Phantasie hätte man die Anordnung für die Ruinen eines sehr großen Hauses halten können, aber wirklich nur mit sehr viel Phantasie.

Sie setzten sich zusammen, ihre Gesichter waren blass im Morgenlicht.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Lily. „Lasst uns umkehren und die Wächter informieren!“
„Und was genau sagen wir ihnen?“, entgegnete Darin nachdenklich. „Dass wir zermatschte Ziegen gefunden haben und unsere Nachtruhe von unheimlichem Pfeifen und Johlen gestört wurde?“
Er rieb sich die Schläfen.
„Ja, die Blutlachen sind ein gewichtiges Argument, aber es ist vage. Sie könnten Wochen brauchen, um hier irgend etwas zu finden.“
Er sah Funny an.
„Funny? Was sagst du?“
Funny blickte entschlossen auf den Haufen Felsblöcke am anderen Ende des Tals.
„Wir bleiben hier“, sagte sie ruhig. „Wir warten die nächste Nacht ab. Wir müssen wissen, was das ist. Und damit wir nicht völlig übermüdet sind, ziehen wir uns jetzt in die Höhle zurück und schlafen für die nächste Nacht vor.“
„Okay“, sagte Lily und streckte sich. „Ich übernehme die erste Wache. Machen wir es wie letzte Nacht? Ablösung nach zwei Stunden? Dann kann jeder von uns vier Stunden am Stück schlafen.“
Funny und Darin stimmten zu.
Der Tanz der Dämonen
Als es wieder dunkel wurde, waren sie hellwach. Die Anspannung war fast unerträglich. Doch bis Mitternacht geschah… gar nichts.
„Vielleicht sind sie weitergezogen“, flüsterte Lily enttäuscht und wollte sich schon wieder hinlegen.
In diesem Moment ertönte der laute Pfiff vom Taleingang. Und wie auf Kommando flammten am anderen Ende des Talkessels, bei den Felsblöcken, dutzende Lichter auf.
Es dauerte nicht lange, und es pfiff erneut, gefolgt von einem lauten, schweren Getrappel, als ob viele Füße den Pfad emporkamen. Lautes, triumphierendes Johlen antwortete von den Felsblöcken.
Als es noch einmal, direkt unter ihrer Höhle, pfiff, flüsterte Darin: „Was auch immer das war, es ist jetzt vorbeigezogen. Lasst uns vorsichtig hinunterfliegen und langsam dem Getrappel folgen.“
Funny stimmte mit einem Nicken zu. Lautlos wie drei Schatten glitten sie aus der Höhle und flogen hinunter zum Pfad. Gegen die Lichter am anderen Ende des Kessels schauend, konnten sie einige merkwürdige, vielgliedrige Silhouetten ausmachen. Aber um was genau es sich handelte, dazu war es viel zu dunkel. Langsam folgten sie in sicherem Abstand.
Vor ihnen pfiff es erneut. Die Silhouetten waren am Ausgang des Talkessels angekommen. Doch dort, wo tagsüber nur viele Felsblöcke herumlagen, war plötzlich ein riesiges, albtraumhaftes Haus aufgetaucht. Es schien aus dem Fels selbst gewachsen zu sein, wild und ungestüm. Die Fensterhöhlen waren hell erleuchtet, und jedes Fenster war so hoch wie sonst ein ganzes Haus. Und das Haus erstreckte sich über drei Etagen!
Kaum war der letzte Pfiff verklungen, polterte es im Inneren des Hauses, und an den Fensterhöhlen erschienen Köpfe. Köpfe, bei deren Anblick den drei Freunden das Blut in den Adern gefror. Manche Köpfe hatten nur ein riesiges, zyklopisches Auge, manche drei, die in verschiedene Richtungen starrten. Wieder andere hatten große, gekrümmte Vogelschnäbel. Manche Augen rotierten wie verrückt, andere waren starr und leblos. Aus Mündern, die aussahen wie klaffende Wunden, drang das laute, irre Johlen.

Und jetzt erkannten sie auch, wer, oder besser was, vor dem Haus stand. Es war schwer zu sagen, wie viele es waren, aber Darin flüsterte, seine Stimme bebte: „Ich glaube… ich glaube, das ist nur ein Wesen. Und es hat die Ziegen gejagt und getötet.“
Funny raunte zurück, ihr Gesicht war kreidebleich: „Im Haus auch. Es scheint nur ein einziges, riesiges Wesen zu sein, das aus diesen Fenstern schaut.“
„Also zwei?“, fragte Lily mit belegter Stimme. „Die müssen gigantisch sein.“
Plötzlich stieß Darin einen erstickten Laut aus. „WEG!“, flüsterte er und zerrte an den Armen seiner Freundinnen. „SCHNELL WEG! IN DER ZWEITEN ETAGE… EINE RIESIGE NASE! SIE IST AUFGETAUCHT! DER WIND STEHT UNGÜNSTIG! WIR WERDEN GEWITTERT!“
Kaum hatte er das gesagt, erscholl aus dem Haus ein hohes, schrilles Gekreische, das sich zu einem ohrenbetäubenden Gebrüll ausweitete: „EINDRINGLINGE!“
Die unförmige Gestalt vor dem Haus drehte sich um, oder besser gesagt, ein Dutzend Köpfe an langen, schlangenartigen Hälsen drehten sich wie auf Kommando in ihre Richtung. Einer dieser Köpfe besaß ebenfalls eine riesige Nase, die angespannt und zuckend schnüffelte.
„DECKUNG!“, schrie Funny. „FELSEN!“
Alle drei stoben senkrecht in die Höhe. Ein gewaltiger Felsbrocken, so groß wie ein Haus, krachte genau in die Richtung, wo sie eben noch geschwebt waren. Der dann folgende Aufprall erschütterte die Luft. Durch die Staubwolke waren sie nun deutlich sichtbar.
„ELFENALARM!“, tönte es aus dutzenden Kehlen gleichzeitig, ein Chor des Hasses. Weitere Brocken flogen in ihre Richtung.
Sie flohen mit höchster Geschwindigkeit höher hinauf ins Gebirge. Die Gestalt vor dem Haus nahm die Verfolgung auf, ihre vielen Beine bewegten sich mit erschreckender Geschwindigkeit die Felswände hinauf. Und auch aus dem Haus ergoss sich ein Strom aus Köpfen, Hälsen, Leibern und unzähligen Füßen. Es war tatsächlich ein zweites Wesen, etwas kleiner als das erste.
Das erste Wesen hatte sie fast eingeholt und befand sich nun hoch oberhalb des Talkessels. In diesem Moment kam Darin ein rettender Gedanke.
„Der Echoball!“, rief er und zog eine kleine, glatte Kugel aus seiner Itembox. Er hielt sie Funny und Lily vor die Nasen. „SCHREIT! SCHREIT SO LAUT WIE IHR KÖNNT! EGAL WAS!“
Funny und Lily zögerten keine Sekunde. Angetrieben von Todesangst, schrien sie ihre ganze Verzweiflung, Wut und Panik in den Ball. Normalerweise waren die Stimmen von Blumenelfen sanft und melodisch, aber die Gefahr entfachte in allen dreien ein Volumen, das sie selbst überraschte.
Nur wenige Sekunden später warf Darin den Ball mit aller Kraft so hoch und so weit er konnte nach unten in den Talkessel. Und dann ertönte aus der Kugel das aufgeregte, panische Rufen der drei Elfen, verstärkt zu einem ohrenbetäubenden Lärm. Das entstehende Echo vervielfachte den gewaltigen Krach noch.
Das Monster oberhalb des Talkessels, das nun glaubte, die Eindringlinge seien weit unter ihm, brach gewaltige Felsbrocken aus dem Gebirgsmassiv heraus und schleuderte sie mit gewaltiger Kraft nach unten.
Das Monster im Talkessel, das nun dachte, die Eindringlinge hätten ein Felsbombardement von oben begonnen, brüllte wütend auf und warf seinerseits riesige Brocken nach oben, genau dorthin, wo das andere Monster stand.
Getroffen von den Felsen seines eigenen Partners, brüllte das obere Monster vor Zorn auf und verdoppelte seine Anstrengungen. Die Brocken wurden immer größer und größer, sowohl die nach unten fliegenden als auch die nach oben geworfenen. Die Wucht wurde so stark, dass ganze Bergmassive unter dem Bombardement zu erbeben und einzustürzen begannen. Beide Monster, gefangen in ihrem Wahn, begruben sich gegenseitig unter gigantischen Gesteinsmassen, als die Berge und Felseformationen nachgaben und zusammenbrachen.
Unsere drei Freunde jedoch waren längst zum Eingang des Talkessels zurückgeflogen, hustend vom Staub, fast taub vom Lärm und zitternd am ganzen Leib.
Zwei Stunden vor Sonnenaufgang, genau wie in der Nacht zuvor, kehrte Stille ein. Doch diesmal war es die Stille eines Grabes.
Als die Sonne rot über dem Gebirge aufging, konnten sie es kaum fassen. Das gesamte Tal war zugeschüttet. Die Silhouette des Gebirges hatte sich für immer verändert.
Und dann traf ein kleiner Trupp Wächter ein. An der Spitze schritt Kaelan. Er lächelte erleichtert, als er die drei unverletzt, wenn auch völlig verdreckt und erschöpft, sah.
„Na dann erzählt mal“, sagte er, seine Stimme war eine Mischung aus Besorgnis und Belustigung. „Was habt ihr drei schon wieder angestellt?“
Funny übernahm es, die Ereignisse der letzten Tage zu schildern. Kaelan hörte aufmerksam zu, sein Gesicht wurde immer ernster.
„Das muss das Vielköpfige Dämonenpaar gewesen sein“, sagte er schließlich. „Eine uralte Legende. Sie tauchen in abgelegenen Gebirgstälern auf, terrorisieren die Gegend und verschwinden dann wieder. Sie erscheinen immer um Mitternacht und um vier Uhr morgens endet der Spuk. Deshalb haben wir kaum eine Chance, sie zu stellen.“
„Stellen?“, fragte Lily entsetzt. „Ihr wolltet die stellen? Die waren gigantisch!“
Sie beschrieb die unfassbare Größe der Wesen. Kaelan und die anderen Wächter schluckten. So groß hatten nicht einmal sie das Dämonenpaar eingeschätzt.
„Wieso seid ihr eigentlich gerade heute hier?“, fragte Darin.
„Dörfler aus dem Tal jenseits dieses Gebirges haben uns über den nächtlichen Lärm und die Erschütterungen informiert“, erklärte Kaelan.
„Aber das nächste Dorf ist fast einen ganzen Tagesmarsch entfernt!“, staunte Lily.
Kaelan lachte rau.
„Kind, sieh dich um. Wir können sämtliche Karten von diesem Gebirge neu zeichnen. Glaub mir, der Lärm, naja, eigentlich die Erschütterungen, konnte man fast bis zur Hauptstadt spüren.“
Dann wurde er ernst.
„Auch wenn wir euch unendlich dankbar sind, dass ihr dieses Problem… gelöst habt – da es keine Zeugen außer euch und keinerlei Nachweise außer einem zugeschütteten Tal gibt, können wir euch keine Punkte gutschreiben.“

Darin winkte ab.
„Das ist uns egal. Wir sind froh, die letzte Nacht überlebt zu haben. Jetzt wollen wir nur noch schnell nach JWD, um uns zu waschen und von diesem Lärm zu erholen.“
Kaelan schaute Darin lange an.
„Ja, macht euch auf den Weg. Ich habe ein ungutes Gefühl. Ich sehe Rawenna nur ungern völlig allein dort draußen.“
„Die Monsterschübe aus dem Ödland?“, warf Funny ein.
„Ah, Fennja hat euch also vorgewarnt“, sagte Kaelan. „Dann los. Macht euch auf den Weg. Wenn ihr euch beeilt, seid ihr zum Abend bei Rawenna und könnt in richtigen Betten schlafen!“
Darin und die beiden Mädchen nickten und flogen wie auf Kommando los.
Kaelan schaute den dreien lange nach. Ein anderer Wächter trat neben ihn.
„Die Drei sind wirklich etwas Besonderes, Kommandant. Lösen das Geheimnis einer uralten Legende in einer Nacht.“
„Das sind sie“, murmelte Kaelan. „Von ihnen können wir noch viel erwarten, Fennja hat nicht zuviel versprochen: Adiuva et Protege. Und wer weiß? Vielleicht sind sie einmal unsere letzte Hoffnung.“
Fortsetzung in „Der Seelensauger von Blumental„
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