Spaß mit japanischen Zeichentrickfilmen

Lily

Für Lily war die Welt nie ein sanftes Wiegenlied. Die Welt war das schrille Kreischen einer Hafenmöwe, das harte Kopfsteinpflaster unter nackten Füßen und das ständige, nagende Gefühl von Hunger. Als Blumenelfe war sie eine Anomalie in den schmutzigen Gassen der Städte – ein Wesen des Lichts, das gezwungen war, in den Schatten zu überleben. Diese Notwendigkeit hatte ihre Zunge scharf und ihren Verstand schneller gemacht. Sie trug ihre freche, burschikose Art wie eine Rüstung, um das zu schützen, was darunter lag: ein unerschütterliches Gefühl für Gerechtigkeit und eine Loyalität, die, einmal verdient, so stark war wie die Dornen, die sie befehligte.


Eine Lektion in Verhandlungsführung

Der Geruch von salziger Luft, Teer und gebratenem Fisch war die unverwechselbare Melodie des Hafenviertels von Kaelburg. Für die meisten war es der Geruch von Arbeit und Handel. Für Lily war es der Klang des knurrenden Magens. Ihr Blick war auf den Marktstand von Barthold fixiert, einem Mann, dessen Gesicht so verkniffen war, als hätte er permanent in eine Zitrone gebissen. Er hatte gerade ein kleines, schmutziges Kind angeschrien, weil es einen vom Tresen gefallenen Shrimps aufheben wollte. Das machte ihn zu einem perfekten Ziel.

Lily landete mit der federleichten Anmut einer Elfe und dem Selbstbewusstsein einer Königin direkt auf seinem Tresen und ließ die Beine baumeln.

„Ein prächtiger Morgen, nicht wahr, Barthold?“, trällerte sie, ihr Lächeln war reine Provokation. „Die Fische sehen heute besonders… fischig aus.“

Barthold, der gerade einen Hering ausnahm, hielt in seiner Bewegung inne. Sein Blick wanderte langsam von ihren nackten Füßen zu ihrem feuerroten Haar.

„Was hab ich dir gesagt, du fliegendes Elend? Scher dich weg von meinem Stand! Du verscheuchst mir die zahlende Kundschaft.“

„Ich bin zahlende Kundschaft“, erwiderte Lily ungerührt. „Nun ja, sozusagen. Ich bin hier, um dir ein Geschäftsangebot zu machen. Eine Dienstleistung.“

Barthold schnaubte verächtlich und warf die Fischinnereien in einen Eimer.

„Eine Dienstleistung? Was willst du anbieten? Unerwünschte Gesangseinlagen?“

„Sicherheit“, sagte Lily und beugte sich verschwörerisch vor. Ihre Stimme wurde leiser. „Ich habe gehört, dass die Rattenplage in diesem Viertel überhandnimmt. Große, fiese Biester. Wäre doch eine Schande, wenn sie sich über Nacht an deinen wertvollen Beständen zu schaffen machen würden.“

„Ratten?“, knurrte Barthold und stemmte seine fleischigen Hände in die Hüften. „Die einzige Plage, die ich hier sehe, bist du!“

„Vielleicht“, gab Lily zu und zuckte mit den Schultern. „Aber ich bin eine Plage, mit der man verhandeln kann. Ratten sind da nicht so gesprächig.“

Sie ließ ihre Fingerspitzen wie beiläufig auf das Holz des Bodens unter dem Tresen sinken. Sie schloss kurz die Augen und konzentrierte sich auf den winzigen Grashalm, der zwischen zwei Dielen hervorlugte. Sie spürte die Lebenskraft darin, nährte sie, verdrehte sie. Eine kleine, spitze Dornenranke, nicht dicker als ein Faden, schoss aus dem Spalt und zwickte Barthold schmerzhaft in den ungeschützten Knöchel.

„Aaaaaah! Verdammtes… Was war das?!“

Er sprang einen Schritt zurück und starrte auf seinen Fuß. Er sah nichts, denn die Ranke war schon wieder verschwunden. Aber er hatte den Stich gespürt. Sein Blick schnellte zu Lily, Misstrauen und ein Hauch von Furcht in seinen Augen.

Lily lächelte unschuldig.

„Huch, was ist los? Etwa eine Ratte?“ Sie schwang sich elegant vom Tresen. „Mein Angebot steht. Ein schöner, gegrillter Fisch pro Tag. Als… sagen wir… Schädlingsbekämpfungsgebühr. Im Gegenzug garantiere ich dir eine absolut rattenfreie Zone um deinen Stand.“

Sie drehte sich um und ging, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie wusste, dass er nachdenken würde. Der Schmerz war echt, die Drohung subtil. Am nächsten Morgen, als sie am Hafen entlangging, lag auf einem Poller in der Nähe von Bartholds Stand ein perfekt gegrillter, duftender Fisch, eingewickelt in ein Blatt. Lily grinste. Verhandlungsführung war eine Kunst. Und sie wurde gerade zu einer Meisterin.


Das unpassende Heldentum

Lily war dabei, sich eine ruhige Ecke zum Essen ihres täglichen Fisches zu suchen, als sie Lärm aus einer Seitengasse hörte. Es war das verächtliche Lachen von Halbstarken, gemischt mit einem unterdrückten Wimmern. Neugierig spähte sie um die Ecke. Drei Jungen, allesamt einen Kopf größer und deutlich breiter als sie, hatten einen jungen Faun in die Enge getrieben. Das Tiermensch-Kind zitterte am ganzen Leib, Tränen liefen über sein behaartes Gesicht, während der Anführer der Bande triumphierend eine kleine Holzflöte in der Hand hielt.

„Schau mal einer an“, höhnte der Anführer. „Will das kleine Zicklein etwa für uns tanzen?“

Lilys Magen zog sich zusammen. Sie hasste das. Diese feige, dumme Art, seine Stärke an Schwächeren auszulassen. Sie vergaß ihren Hunger, vergaß ihre Vorsicht. Sie atmete tief durch und trat aus dem Schatten.

„Hey, ihr Witzfiguren!“, rief sie, ihre Stimme schallte von den feuchten Mauern wider. „Habt ihr euch verlaufen? Die Zirkus-Auditions sind auf der anderen Seite der Stadt.“

Die drei drehten sich überrascht um. Der Anführer musterte sie von oben bis unten.

„Was will denn die kleine Feuerfliege hier? Das ist eine Privatangelegenheit.“

„Sieht für mich eher wie öffentliches Ärgernis aus“, konterte Lily und verschränkte die Arme. „Gebt dem Jungen seine Flöte zurück und macht, dass ihr wegkommt. Ich hab heute schlechte Laune.“

„Oder was?“, fragte der Junge und machte einen Schritt auf sie zu. „Kitzelst du uns mit deinen Flügeln?“

Das war die Einladung, auf die sie gewartet hatte, auch wenn sie wusste, dass sie sich gerade maßlos überschätzte.

„Oder das hier“, sagte sie und schoss vor. Sie war schnell, aber der Junge war vorbereitet. Er packte ihren Arm. Ein anderer griff nach ihrem Flügel. Ein stechender Schmerz durchfuhr sie, als er an dem empfindlichen Gelenk zerrte. Sie schrie auf, mehr aus Wut als aus Schmerz.

„Okay. Ihr habt es so gewollt.“ Sie riss sich los, ignorierte den Schmerz und schlug mit beiden Handflächen auf das schmutzige Pflaster. „Jetzt reicht’s!“

Die Magie, die sie rief, war nicht subtil oder leise. Sie war ein wütender Ausbruch. Dornenranken, dick und knorrig, eruptierten aus den Fugen zwischen den Steinen. Sie schlugen nicht, sie wuchsen mit explosiver Geschwindigkeit. Eine Ranke schlang sich um den Knöchel des Anführers und brachte ihn zu Fall. Zwei weitere bildeten eine dichte, undurchdringliche Wand zwischen den Schlägern und dem Faun. Es war keine elegante Magie. Es war ein chaotisches, verzweifeltes „HAUT AB!“.

Die Jungen starrten entsetzt auf das dornige Chaos. Das hatten sie nicht erwartet. Sie waren Schläger, keine Monsterjäger. Sie stolperten rückwärts und ergriffen die Flucht.

Sobald sie verschwunden waren, kollabierte die Magie. Die Ranken verwelkten und zerfielen zu Staub. Lily stand keuchend da, jede Faser ihres Körpers schmerzte. Der kleine Faun starrte sie mit riesigen, ehrfürchtigen Augen an. Er hob seine Flöte auf, die der Anführer hatte fallen lassen.

„D-danke“, flüsterte er. „Du… du hast mich gerettet. Du bist eine Heldin!“

Lily rieb sich ihren schmerzenden Flügel und zuckte die Achseln, als wäre es nichts.

„Ach, Quatsch. Die drei hatten einfach nur extrem hässliche Frisuren. Konnte ich nicht mit ansehen.“ Sie nahm den Jungen am Arm, schob ihn sanft aus der Gasse und sagte: „Und jetzt sieh zu, dass du nach Hause kommst.“

Erst als er sicher außer Sicht war, ließ sie sich an einer Hauswand niedersinken und verzog das Gesicht vor Schmerz. Dieses Helden-Getue war wirklich anstrengend. Und doch… das leise, triumphierende Pochen in ihrer Brust fühlte sich verdammt gut an.


Loyalität kennt keinen Wecker

Lily hasste den Morgen. Sie hasste die Art, wie das erste Sonnenlicht unverschämt durch jede Ritze kroch. Sie hasste die fröhlich zwitschernden Vögel, die sie am liebsten in einen Käfig gesperrt und mit einem Tuch abgedeckt hätte. Und sie hasste jeden, der es wagte, sie zu wecken. An diesem speziellen Morgen war dieser Jemand der Gnom Fizzlewick.

Ein nervöses Zupfen an ihrer Schulter riss sie aus einem Traum von warmen Höhlen und fliegenden Reptilien.

„Pssst! Lily! Beim Barte des Berges, wach auf!“

Lily zog sich den Heuhaufen, der als ihr Bett diente, fester über den Kopf. Der Geruch von trockenem Gras und alter Scheune war ihr lieber als Fizzlewicks panischer Atem.

„Wenn du nicht gerade in Flammen stehst, Fizzlewick, dann geh weg“, grummelte sie, ihre Stimme war ein tiefes, unzufriedenes Knurren.

„Schlimmer! Viel schlimmer!“, quiekte der Gnom und rüttelte sie heftiger. „Die Stadtwache! Sie umstellen die Scheune!“

Lilys Augen öffneten sich einen Spalt. Draußen hörte sie das gedämpfte Rufen von Männern und das Knirschen von Stiefeln auf dem Kiesweg.

„Was hast du jetzt schon wieder angestellt?“, seufzte sie und setzte sich auf. Ihr rotes Haar war ein wildes Nest aus Heu und Trotz.

Fizzlewick zappelte von einem Fuß auf den anderen.

„Es gab da… ein kleines, semantisches Missverständnis bezüglich der Besitzverhältnisse eines Beutels Goldmünzen bei einer Partie ‚Stich den Drachen‘.“

„Du hast betrogen“, übersetzte Lily tonlos. „Schon wieder.“

„Die Karten waren nur minimal… optimiert“, verteidigte sich Fizzlewick schwach.

„HAUPTMANN AN FIZZLEWICK DEN GNOM! KOMM RAUS MIT ERHOBENEN HÄNDEN! WIR WISSEN, DASS DU DA DRIN BIST!“

Die Stimme des Hauptmanns ließ die Holzwände erzittern. Fizzlewicks Gesicht wurde aschfahl. Lilys Blick wanderte von dem zitternden Gnom zur Tür und wieder zurück. Sie war müde. Sie war hungrig. Und sie war extrem schlecht gelaunt. Aber Fizzlewick hatte letzte Woche seinen letzten Laib Brot mit ihr geteilt, ohne dass sie fragen musste. Das zählte. Loyalität war eine Währung, die Lily sehr ernst nahm.

Sie stöhnte theatralisch.

„Na schön. Aber das kostet dich. Das kostet dich ein Frühstück. Mit extra viel Speck. Und Bratkartoffeln. Und einem großen Krug Apfelsaft.“

Fizzlewicks Augen leuchteten vor Erleichterung.

„Alles! Alles, was du willst!“

Lily stand auf, reckte sich wie eine Katze und ging zum großen Scheunentor. Sie spähte durch eine schmale Ritze. Sechs Wachen. Ein Netz. Sie sahen entschlossen aus. Lily grinste. Zeit für ein wenig Theater.

Sie klopfte von innen an die Tür.

„Hallo? Ist da draußen jemand?“, rief sie mit einer unschuldigen, hellen Stimme, die sie für solche Gelegenheiten reserviert hatte.

Der Hauptmann war verwirrt.

„Wer spricht da? Öffne die Tür!“

„Ich bin nur ein armes, verirrtes Blumenelfen-Mädchen“, flötete Lily. „Ich habe hier übernachtet und eure lauten Stimmen haben mich geweckt.“

Sie konzentrierte sich, legte die Hände flach an das raue Holz und ließ ihre Magie fließen. Dutzende dünner, aber bedrohlich aussehender Dornenranken schoben sich langsam und knarrend durch die Spalten im Tor und den Türrahmen. Sie wanden sich in der Morgenluft wie neugierige, stachelige Schlangen.

„Ich würde ja die Tür öffnen, aber meine… Haustiere… sind morgens immer etwas nervös. Besonders wenn Fremde schreien.“

Die Wachen wichen einen Schritt zurück. Sie hatten noch nie so etwas gesehen. Die Ranken zitterten und schienen sie anzustarren. Die Stille, die entstand, war gespenstig.

„Was zum…?“, murmelte eine der Wachen.

Lily nutzte den Moment, um zur kleinen Hintertür zu eilen und sie einen Spalt zu öffnen.

„Lauf, du alter Zwergenschreck“, zischte sie zu Fizzlewick. „Und vergiss den Speck nicht!“

Der Gnom warf ihr einen dankbaren Blick zu und verschwand wie ein Wiesel im angrenzenden Wald. Lily wartete ein paar Herzschläge, dann zog sie ihre Magie zurück. Die Ranken glitten lautlos zurück in ihre Verstecke. Sie öffnete das große Tor mit einem unschuldigen Lächeln.

„So, da bin ich. Kann ich euch irgendwie helfen?“

Der Hauptmann starrte sie an, dann in die leere Scheune und dann wieder auf sie. Sein Gesicht war ein Gewitter aus Wut und Verwirrung. Aber er hatte keinen Beweis. Er konnte nichts tun. Mit einem frustrierten Grunzen befahl er seinen Männern den Rückzug.

Lily sah ihnen nach, bis sie verschwunden waren. Dann gähnte sie herzhaft. Jetzt hatte sie sich ihr Frühstück wirklich verdient.


Der wahre Wert des Geldes

Es war ein guter Monat gewesen. Eine Reihe kleiner, cleverer Gaunereien hatte Lilys Beutel erstaunlich schwer gemacht. Sie konnte sich zum ersten Mal seit Langem den Luxus leisten, nicht nur an die nächste Mahlzeit, sondern auch an die übernächste zu denken. Sie schlenderte über den großen Markt, den Duft von Backwaren in der Nase, fest entschlossen, sich ein Festmahl zu gönnen.

Doch dann sah sie es. Auf dem Tisch eines Trödlers, zwischen rostigen Dolchen und angelaufenem Silberschmuck, lag ein Buch. Es war alt, das dunkelbraune Leder war an den Ecken bestoßen und rissig. Aber in die Mitte war eine Goldprägung eines schlafenden Drachen, die Schuppen als feine Linien in das Material gearbeitet.

Lily blieb wie angewurzelt stehen. Der Geruch von Brot verblasste. Sie trat näher.

„Was kostet das alte Ding?“, fragte sie und versuchte, ihre Stimme beiläufig klingen zu lassen.

Der Trödler, ein Mann mit einem Auge, das in eine andere Richtung schielte als das andere, zuckte mit den Schultern.

„Niemand will Bücher ohne bunte Bilder. Gib mir fünf Silberstücke, und der Staubfänger gehört dir.“

Fünf Silberstücke oder 500 Kupferlinge. Das war… fast alles, was sie hatte. Das waren zwei Wochen mit vollem Magen. Das war ein neues Paar Stiefel für den Winter, auch wenn sie lieber barfuß lief. Ihr Magen protestierte laut bei dem Gedanken. Ihre Hand wanderte zu ihrem Geldbeutel, dann zu ihrem knurrenden Bauch. Der Konflikt war kurz, aber heftig.

Sie legte das Geld auf den Tisch. Der Trödler starrte sie an, als wäre sie verrückt, zuckte dann aber mit den Schultern und schob ihr das Buch hin.

Lily rannte. Sie rannte nicht zu einer Bäckerei, sondern auf das Dach des höchsten Lagerhauses im Hafen. Dort, mit dem Blick über die ganze Stadt, schlug sie die erste Seite auf.

Die Welt um sie herum verschwand. Die Seiten waren gefüllt mit detaillierten, handgezeichneten Skizzen und einer eleganten, aber verblassten Handschrift. Sie las vom Smaragdgrünen Weidedrachen, einem sanften Riesen, der sich von den magischen Kräutern der Hochebenen ernährte. Sie starrte auf das Bild des Sonnenschuppen-Himmelsseglers, dessen Flügel so dünn waren, dass sie das Licht in alle Farben des Regenbogens brachen. Sie las von der Weisheit der Bergdrachen, die in der Sprache der Steine sprachen, und von der verspielten Neugier der Flussdrachen, die mit den Ottern um die Wette schwammen.

Dies waren keine Bestien. Dies waren Künstler, Philosophen, Könige. Die Seele der Welt, in Schuppen und Feuer gegossen.

Als die Sonne unterging und die Stadt in Dunkelheit tauchte, hatte Lily kein einziges Wort über Drachenhorten oder Goldschätze gelesen. Stattdessen hatte sie von Familienbanden, von uralten Liedern und von einem Leben gelesen, das so frei und wild war, wie sie es sich nur erträumen konnte.

Sie schloss das Buch, den leeren Magen und die Kälte ignorierend. In ihren Händen hielt sie mehr als nur Papier und Tinte. Sie hielt einen Traum. Und dieser Traum war jeden einzelnen Silbertaler wert.


Ein Herz für Drachen

Der Winter kam mit Zähnen aus Eis und einem eisigen Griff, der die Stadt lähmte. Die Aufträge versiegten, die Almosen wurden spärlicher und Lilys Magen war ein ständiger, schmerzhafter Knoten. Die Seiten ihres Buches waren ihr einziger Trost, aber man konnte keine Träume essen. Die Verzweiflung war ein bitterer Geschmack auf ihrer Zunge.

In der schäbigsten Taverne des Hafenviertels, einem Ort namens „Der rostende Anker“, hörte sie das Flüstern. Ein Söldner, Grak, ein Mann mit toten Augen und einer Seele aus Schotter, suchte Leute für einen „sicheren Job“. Der Job war ein Überfall auf die Drachenschutzgebiete. Die Beute: Drachenbabys. Unbezahlbar auf dem Schwarzmarkt.

Lilys Herz gefror. Die Bilder aus ihrem Buch – der sanfte Weidedrache, der verspielte Flussdrache – standen ihr vor Augen. Aber dann meldete sich der Schmerz in ihrem Bauch, die Kälte in ihren Gliedern.

Ich gehe nur mit, log sie sich selbst an. Ich sorge nur für Ablenkung. Ein paar Ranken, um die Wächter auf die falsche Fährte zu locken. Ich werde keinem Drachenbaby etwas tun. Ich sorge nur dafür, dass ich den Winter überlebe.

Der Pakt mit ihrem Gewissen war brüchig, aber er hielt. Vorerst. Sie schloss sich Graks Truppe an – neben Grak einem stillen, messerschwingenden Halunken und einem nervösen Magier, dessen Gier seine Angst überwog.

Die Reise in die Berge war eine Tortur. Der Aufstieg in das Heiligtum, ein von Nebeln und Illusionen geschütztes Tal, war noch schlimmer. Doch als sie durch den Nebelschleier traten, stockte Lily der Atem. Es war, als hätte jemand eine Seite aus ihrem Buch gerissen und zum Leben erweckt. Moosbewachsene Felsen, von denen Wasserfälle wie flüssiges Silber stürzten. Uralte Bäume, deren Äste sich wie weise Arme über das Tal spannten. Es war ein Ort des Friedens. Ein heiliger Ort. Und sie waren hier, um ihn zu schänden.

Sie fanden das Nest in einer hohen Felsenhöhle. Die Drachenmutter war fort. Drei Junge, nicht größer als Wolfshunde, schliefen aneinandergekuschelt. Eines war von tiefem Grün, das andere von einem leuchtenden Blau und das dritte von der Farbe polierter Bronze.

„Perfekt“, zischte Grak. „Schnell, in die Säcke!“

Das Erwachen der Drachenbabys war ein Chaos aus panischem Fiepen und Zappeln. Der kleine Bronzedrache wehrte sich am heftigsten. Er kratzte und biss nach dem groben Sack, in den Grak ihn stopfen wollte.

„Verdammtes Vieh!“, knurrte Grak und verlor die Geduld. Mit einer brutalen Bewegung schlug er den Sack gegen die Felswand, um das Junge ruhigzustellen.

Der Laut, der folgte, war kein lautes Krachen. Es war ein leises, krankes Knacken. Gefolgt von einem hohen, schmerzerfüllten Schrei, der durch Mark und Bein ging.

Für Lily brach die Welt zusammen. Die Lügen, die sie sich erzählt hatte, die brüchigen Rechtfertigungen – alles zerfiel zu Staub.

„Was… was hast du getan?“, flüsterte sie, ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch.

Grak zuckte mit den Schultern und warf den schlaffen Sack beiseite.

„Der ist jetzt beschädigte Ware. Nutzlos. Kommt, holen wir uns die anderen beiden und verschwinden.“

Das Drachenbaby im Sack wimmerte leise. Lily starrte auf den Haufen, und alles, was sie sah, war das Bild des stolzen Sonnenschuppen-Himmelsseglers aus ihrem Buch, verstümmelt und weggeworfen.

„Nein“, sagte sie. Ihre Stimme war jetzt fest.

Grak drehte sich um.

„Was hast du gesagt?“

„Ich habe gesagt: NEIN!“, schrie sie ihn an, Tränen der Wut und der Scham schossen ihr in die Augen. „Wir lassen es nicht hier!“

Grak lachte ein kurzes, hässliches Lachen. „Du hast hier gar nichts zu sagen, kleine Elfe.“ Er und die anderen wandten sich zum Gehen.

„Ich lasse es nicht zu“, sagte Lily, ihre Stimme war nun eiskalt und scharf wie eine Eisscherbe.

Sie schlug mit beiden Händen auf den Höhlenboden. Die Magie, die sie entfesselte, war keine kontrollierte Drohung mehr. Es war ein Schrei ihrer Seele. Massive Dornenmauern explodierten aus dem Fels, versperrten den Ausgang. Weitere Ranken, dick wie Arme, schossen auf die Söldner zu, umschlangen ihre Gliedmaßen und rissen ihnen die Säcke aus den Händen. Sie wurden nicht zerquetscht, aber sie wurden unbarmherzig festgehalten.

Lily rannte zu dem Sack, ignorierte die Flüche der Männer. Zitternd öffnete sie ihn. Das bronzene Drachenbaby lag darin, ein Flügel stand in einem unnatürlichen Winkel ab. Sein Körper zitterte vor Schmerz und Schock.

Tränen strömten über Lilys Gesicht. Sie legte ihre Hände sanft auf den kleinen Körper. Ihre Magie war nicht stark genug, um Knochen zu heilen, aber sie konnte Leben fördern. Sie ließ weiches, leuchtendes Moos über die Bruchstelle wachsen, das sich wie eine sanfte Schiene um den Flügel legte und ein beruhigendes, grünes Licht ausstrahlte.

„Es tut mir so leid“, flüsterte sie. „Es tut mir so, so leid.“

In diesem Moment stürmten die Wächter in die Höhle, an der Spitze ihr Anführer Kaelan, wettergegerbt, unbestechlich.

„SIE WAR’S!“, brüllte Grak sofort. „DIE ELFE IST DIE ANFÜHRERIN! SIE HAT UNS GEZWUNGEN!“

Kaelan schenkte ihm keine Beachtung. Sein erfahrener Blick erfasste die Szene in Sekunden: die gefesselten, aber lebendigen Wilderer; die beiden anderen Drachenjungen, die verängstigt, aber unversehrt in einer Ecke kauerten; und das rothaarige Elfenmädchen, das weinend versuchte, ein verletztes Drachenbaby zu trösten, während ihre eigene Magie die Täter in Schach hielt.

Er ging langsam auf Lily zu. Sie blickte auf, ihr Gesicht war eine Maske aus Furcht und Entschlossenheit.

Kaelans Stimme war ruhig, aber durchdringend. „Du hast sie aufgehalten.“

Lily nickte nur, unfähig zu sprechen.

„Wilderei in einem Heiligtum ist eines der schwersten Verbrechen“, fuhr er fort. „Darauf steht das Felsengefängnis. Viele Jahre ohne Licht.“

Lily schluckte. Als Lichtwesen wäre das ihr Tod.

Er hockte sich neben sie, sein Blick fiel auf ihre sanften Hände auf dem Drachenflügel.

„Aber ich sehe hier keine Wildererin. Ich sehe eine Kämpferin mit einem wilden Schutzinstinkt. Ich sehe unkontrollierte Macht, die aus dem Herzen kommt. Und ich sehe eine riesige Dummheit, die du gerade versuchst, wiedergutzumachen.“

Er sah ihr direkt in die Augen.

„Ich mache dir ein Angebot, Kind. Das Gefängnis… oder die Akademie. Wir können diese wilde Kraft, die in dir steckt, zähmen und formen. Wir können dir beibringen, für die Schwachen zu kämpfen, ohne dabei selbst Gesetze zu brechen. Wir geben dir ein Ziel, das größer ist als deine nächste Mahlzeit.“

Die Akademie. Regeln. Disziplin. Alles, wogegen sie sich immer gesträubt hatte. Aber dann blickte sie auf das kleine, zitternde Wesen in ihrem Schoß. Dies war eine Chance, mehr zu sein als eine Überlebende. Es war die Chance, die Heldin zu werden, die sie in ihrem Buch so bewunderte.

„Abgemacht“, krächzte sie.


Einige Wochen später fand sich Lily im Audimax der Akademie wieder. Sie fühlte sich fehl am Platz, ein wildes Unkraut in einem sorgfältig gepflegten Garten. Als der grimmige Zwerg von der Bühne herabdonnerte und sein Blick über die Menge wanderte, traf er den ihren. Sie wich nicht aus. Sie hatte Schlimmeres gesehen. Sie hielt seinem Blick stand, ein Funke ihres ungezähmten Feuers loderte in ihren Augen. Der Zwerg hielt einen Moment inne, die Andeutung eines Nickens, dann wanderte sein Blick weiter.

Als seine Rede mit dem schicksalhaften Satz endete – „Glaubt nicht, dass das leicht wird!“ – und die anderen Studenten panisch davonstoben, erhob sich Lily nur langsam.

Ein zynisches Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

„Leicht?“, murmelte sie in die plötzliche Stille. „Wann war in meinem Leben jemals irgendetwas leicht?“

Ein neues Kapitel hatte begonnen. Und sie würde es nach ihren eigenen Regeln schreiben.

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Kommentare

Eine Antwort zu „Lily“

  1. Avatar von Ursula

    Sehr, sehr schön. Tolle Story, Gefühl Mut und Entschlossenheit, ganz prima,

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